Australien gilt bei Corona als Vorzeigeland. Aber nun grassiert die Delta-Variante auch hier - bei geringer Impfquote. Experten warnen, die Abschottungspolitik lasse sich nicht mehr lang durchhalten.
Vor einem Jahr wollten sie heiraten. Stattdessen sehen sich der Australier Bolivar und seine Verlobte Veronica aus Ecuador nur über Videochat. Australien hat seine Grenze direkt zu Beginn der Pandemie dicht gemacht. Und will sie vor Ende 2022 nicht wieder öffnen.
"Es ist einfach herzzerreißend. Jedes Mal, wenn ich sie so sehe, dank der Technik. Es ist einfach so viel Angst in meinem Herzen im Moment", klagt Bolivar.
Familien werden getrenntMit der Grenzschließung will Australien das Coronavirus draußen halten. Die Regierung verfolgt - anders als etwa Europa - eine No-Covid-Strategie. Sie will also null Infektionen in dem Land.
Mark Stears, Professor an der Universität von Sydney, betont, wie wichtig die Zero-Covid-Strategie für die Australier sei: "Jeden Tag, an dem es einen Fall gibt, und sei es nur ein einziger, sind die Leute sehr besorgt und jeden Tag, an dem es keine Fälle gibt, feiern die Leute das in den sozialen Medien."
Auch Premierminister Scott Morrison lobt immer wieder, wie gut Australien mit bislang lediglich 900 Toten durch die Krise gekommen ist.
Limousinenfahrer verteilte das VirusDoch obwohl das Land weitgehend abgeriegelt ist, tauchen vereinzelt Corona-Fälle auf. Wie gerade in Sydney: Ein Limousinenfahrer, der eine Flugzeugbesatzung in ein Quarantänehotel gefahren hatte, verteilte das Virus in der Stadt. Jetzt gilt ein zweiwöchiger Lockdown, um die Verbreitung zu stoppen.
Der Gesundheitsberater Bill Bowtell kritisiert im australischen Fernsehen: "Wir stehen wirklich vor der schwersten Krise der Covid-Pandemie seit den ersten Tagen im Februar/März letzten Jahres. Was es noch schlimmer macht, ist, dass dies eine weitgehend vermeidbare und vorhersehbare Krise war."
Jeder zweite Australier im LockdownInzwischen hat sich die besonders ansteckende Delta-Variante auch in anderen Landesteilen ausgebreitet. Jeder zweite Australier ist zurück im Lockdown. Zählt man wieder eingeführte strengere Corona-Maßnahmen mit, sind sogar 80 Prozent der Bevölkerung betroffen.
Ryan Kahn aus Sydney kann nachvollziehen, dass seine Stadt wieder im Lockdown ist. Er sitzt zu Hause im Wohnzimmer mit seiner Frau und den zwei Töchtern. Der Ausbruch der Delta-Variante besorgt die Familie, erzählt er am Telefon. "Ich bin frustriert, dass New South Wales nicht schon früher dicht gemacht hat. Denn diese Variante ist viel ansteckender als die anderen."
Sein Vater John sieht das ganz anders. Für ihn sind die ständigen Lockdowns keine langfristige Lösung: "Ich bin frustriert über die Covid-Situation in Australien. Wir können das Virus nicht ausrotten. Das ist dummes Zeug", meint er. "Wir müssen lernen, mit Covid-19 zu leben."
Wieder eine Abschottungspolitik?Wie also raus aus der Krise? Die Zero-Covid-Strategie halten viele Forschende prinzipiell für richtig. Doch Australien könne mit seiner Abschottungspolitik nicht ewig weitermachen, sagt Tim Soutphommasane von der Universität von Sydney.
Australien muss anfangen, über die nächste Phase der Pandemie nachzudenken. Das Land kann nicht auf unbestimmte Zeit oder für einen längeren Zeitraum geschlossen bleiben, ohne dass es erhebliche wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kosten gibt. Die Herausforderung für Australien besteht jetzt darin, darüber nachzudenken, wie es sicher wieder öffnen kann.Das erkennt inzwischen auch die Regierung. Premierminister Scott Morrison kündigt heute einen leichten Kurswechsel an: Eine Art Vier-Stufen-Plan zur Öffnung. Dieser hängt von der Impfquote im Land ab. Zuvor hatten verschiedene Politiker betont, dass Australien erst eine Impfquote von rund 80 Prozent erreicht haben müsse, bevor das Land über Grenzöffnungen nachdenken könne.
Zuerst kein Impfstoff - jetzt große SkepsisEine solche Herdenimmunität werde das Land vermutlich nicht erreichen, sagen Wissenschaftler. Erst gab es keinen Impfstoff, und jetzt ist die Skepsis groß.
Der Hausarzt Brad McKay beobachtet das täglich in seiner Praxis: "Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolgs", meint McKay. "Wir hatten ein paar Ausbrüche und konnten diese unter Kontrolle bringen. Ein großer Teil der Bevölkerung hat daher die Einstellung, dass wir einfach abwarten können, wie sich die Dinge entwickeln."
Eine Umfrage des Melbourne Institute zeigt, dass sich jeder dritte Australier nicht impfen lassen möchte oder zögert. Hauptgrund ist die Sorge vor Nebenwirkungen. Und viele sehen keine Notwendigkeit, solange die Grenzen geschlossen sind.
Die Impfkampagne in Australien läuft daher schleppend. Bisher sind gerade mal gut fünf Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. In Folge des aktuellen Corona-Ausbruchs im Land hat die Regierung eine Impfpflicht beschlossen: für Altenpfleger und Mitarbeiter in Quarantäne-Hotels. Sie müssen sich bis Mitte September mindestens einmal impfen lassen.
Für Australier sei so eine Impfpflicht kein Grund zur Aufregung, sagt der Universitätsprofessor Stears: "In Australien gibt es bereits eine ganze Reihe verpflichtender Impfungen. Australier sind also ziemlich daran gewöhnt, dass sie ohne Impfung nicht in bestimmten Berufen arbeiten können oder ihre Kinder nicht auf eine bestimmte Schule gehen dürfen."
Gefahr der wirtschaftlichen und sozialen KostenAn der Universität von Sydney fürchten sie, dass Australien seinen Vorsprung gegenüber dem Rest der Welt verspielen könnte, wenn das Land beim Impfen nicht schnell Fortschritte macht. Soutphommasane meint: "Es besteht die reale Gefahr, dass andere Länder, die geimpfte Bevölkerungen haben, ihre wirtschaftliche Tätigkeit wieder aufnehmen können und Australien zurückbleibt."
Auch Bolivar aus Sydney sieht die wirtschaftlichen Kosten. Er arbeitet als Statistiker. Aber noch viel mehr treffen ihn die sozialen Kosten, weil er seine Verlobte seit über einem Jahr nicht sehen darf. "Ich bin 52 Jahre, sie ist 40 Jahre alt, wir haben noch nie Kinder gehabt und wollen noch eine Familie gründen. Es scheint, als gäbe es kein Ende, kein Licht am Ende des Tunnels."
"Gefangen auf dieser riesigen Insel"Auch Ryan aus Sydney, der die Abschottungspolitik der Regierung sonst begrüßt, erkennt, dass Abschottung keine langfristige Strategie sein kann: "In mancher Hinsicht fühlt es sich so an, als wären wir ein wenig gefangen auf dieser riesigen Insel, obwohl es hier sicherer ist als anderswo auf der Welt."
Und Soutphommasane meint: "Australien als Covid-freies Paradies ist eine Illusion. Vielleicht ist es sogar eine Fantasie. Irgendwann wird Australien sich wieder mit der Welt auseinandersetzen müssen. Zumindest, wenn es eine moderne globalisierte Gesellschaft bleiben will."
Das Virus werde die Australier noch Jahre begleiten. Die Regierung könne nicht bei jedem Fall einen Lockdown verhängen, um die Zahlen wieder auf null zu bekommen. Australien müsse sich der Realität stellen: mit Covid leben oder zur Einsiedlernation werden.