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Vom Leder lassen

Leder hat ein Image-Problem, immer mehr Menschen wollen vegan, ohne Tierprodukte leben. Dabei sind die Alternativen zum Naturmaterial nicht ausgereift. Das zeigt ein Besuch im Deutschen Ledermuseum.

Leder ist böse. Es stammt vom Tier. Es ist nicht vegan – und damit gegen den Trend. Was als Randerscheinung begann, hat sich für viele Menschen zu einer Lebenseinstellung gemausert. Die Zahl der Veganer wird in Deutschland auf rund eine Million geschätzt. Vegan leben, das heißt, die Finger von allem Tierischen zu lassen – auf dem Teller, bei der Körperpflege und der Bekleidung. Peta-Botschafterin Pamela Anderson schwört auf Lederalternativen und entwarf im vergangenen Jahr gemeinsam mit der französischen Designerin Amélie Pichard eine vegane Schuhkollektion. Das ist hip und entspricht der Hoffnung, die Welt vielleicht ein Stück besser zu machen, wenn kein Tier mehr für das eigene Wohl leiden muss. Sogar auf manchen Wasserflaschen prangt inzwischen der Titel „vegan“ – gemeint ist das als Qualitätsmerkmal.

Leder hat ein Image-Problem. Auch im Deutschen Ledermuseum in Offenbach, das in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert, ist man sich der Diskussion um Tierprodukte gewahr. Architekt Hugo Eberhardt gründete das Museum einst, bis heute ist es landesweit einmalig. Fast verklärt nostalgisch wirkt die Verlinkung zu Qualität und Handwerkskunst. Sorgen macht sich die aktuelle Direktorin, Inez Florschütz, trotzdem nicht: „Leder wird auch zukünftig nicht an Bedeutung verlieren. Zumal viele der Alternativen eher schaden als nützen.“ Die aktuelle Sonderausstellung „Leder – Begleiter durchs Leben“ wurde gerade bis 26. Februar verlängert.


Ist Plastik eine gute Alternative?

Polyurethan und Polyester nennen sich die Ausweichmöglichkeiten zum Naturprodukt und meinen nichts anderes als Plastik. Während der verlorene Lederschuh in der Natur mit der Zeit zu Kompost wird, wandelt das Kunststoffmodell je nach Umweltbedingung noch bis zu mehreren Hundert Jahren auf Erden. Es ist nicht biologisch abbaubar und gesellt sich somit zu den vielen Tonnen Plastikmüll, die sich weltweit angesammelt haben. Dass man über die genaue Menge den Überblick verloren zu haben scheint, zeigen die unterschiedlichen Werte, die offizielle Stellen und NGOs herausgeben. Kein Wunder, denn Plastik verschwindet nicht, es zerfällt in so winzige Stücke, dass es nur noch mit dem Mikroskop nachweisbar ist. Davor bildet ein Großteil Müllberge an Land und Plastikinseln in den Weltmeeren.


Landschaftsähnliche Formationen aus gegerbter Tierhaut sucht man dagegen vergeblich. Betagtes aus Leder wird Vintage, wird antik, bekommt Bedeutung, endet vielleicht im Museum. Und trotzdem stellen sich viele die Frage: Ist ein Leben ohne Leder vielleicht ein besseres?

An Antworten wagt sich die Offenbacher Institution mit ihrer neuen Ausstellung. Bis zum Ende des Jahres zeigt das Museum einen fiktiven Lebenskreislauf aus 40 ledernen Exponaten – die meisten aus Zeiten, in denen man von Kunststoff noch nie etwas gehört hatte. In einer entkernten Großraumvitrine scheinen sie auf den eigens entworfenen Plexiglasträgern zu schweben. Helle Spots an den Decken leuchten jedes Stück bis in die Poren aus. Auch das ist neu.

Ohne Licht im Museum

Im restlichen Gebäude beginnt der Besuch mit einer erstaunlichen Feststellung: Zu sehen gibt es erst einmal nichts. Es ist dunkel, die Fenster sind verblendet. Schemenhaft lassen sich in der Umgebung Vitrinen ausmachen. Der Duft des Parkettbodens liegt in der Luft. Von Leder keine Spur. So sieht man immer wieder Menschen mit den Händen an den Wänden blind entlangfahren. Erst das Betätigen des Lichtschalters macht aus dem Gruselkabinett ein Museum – und das in jedem Ausstellungsraum aufs Neue.

Licht greife die Objekte an, zerstöre im schlimmsten Fall jahrtausendealte Merkmale, erklärt Inez Florschütz. Ein objektschonendes LED-Lichtsystems setzt der Schaltersucherei zumindest bei der neuen Ausstellung ein Ende. Auch bei der Bestückung der Vitrine hat sich das Team um die Direktorin gegen die vorherrschende überladene Optik entschieden: Weniger Ablenkung und mehr Raum für die Geschichten hinter den einzelnen Objekten. Die erzählen nicht nur viel über das Leben, sondern auch über das Museum selbst.


Eines der beeindruckendsten Stücke verdankt seinen Aufritt dem Zufall: ein täuschend echt wirkender Spielzeugelefant, auf dem einst der spätere König Ludwig XV. in Frankreich durch seine Kindertage ritt. Den König rafften mit 64 Jahren die Pocken dahin, der Elefant aus leicht glänzendem Eberleder und Elfenbeinstoßzähnen fand seinen Weg über 200 Jahre später in eine Kunsthandlung in Frankfurt. Seinem Charme verfiel Sammler und Museumsgründer Hugo Eberhardt aber nicht, sondern tat ihn als bedeutungslos ab.

Ein Freund schärfte seinen Blick für das inzwischen weiterverkaufte Reittier. Was Eberhard nicht haben konnte, brauchte er umso mehr. Und so kaufte er dem neuen Besitzer das königliche Spielzeug zu einem deutlich höheren Preis wieder ab. Bis heute finanziert sich das Museum über Spenden und Zuschüsse. Sie halfen auch bei der Umsetzung zahlreicher Reisen, die der Gründer unternahm, um die Sammlung kulturell breiter aufzustellen.


Direkt neben dem Elefanten hängt eine schwarze Maske aus Tansania. Sie ist mit Muscheln und bunten Glasperlen verziert. Augen und Mund sind als Kreise und Rechtecke ausgeschnitten, was ihr einen leicht entsetzten Ausdruck verleiht. Aus Spiel wird ernst. Masken wie diese sollten noch im vergangenen Jahrhundert Mädchen ab 14 Jahren während der Phase der Beschneidung schützen. Heute ist das Ritual verboten. Praktiziert wird es in einigen Teilen Afrikas dennoch. Für die Kuratoren ein Grund mehr der Kontroverse um ein solches Exponat nicht aus dem Weg zu gehen – allein um Ästhetik gehe es ihnen nämlich nicht.


Und weil dies für das gesamte Museum gilt, sitzt seit Kurzem wieder ein Krokodil in der Cafeteria. Zumindest der Rückenteil mit ausgestopften Beinen und Kopf. Etwa 70 Jahre ist es alt. Das Washingtoner Artenschutzabkommen schützt die Reptilien heute in freier Wildbahn. Zuchttiere werden dagegen weiter für die Lederindustrie gehäutet – teilweise bei lebendigem Leib. Ein Schicksal, das sie mit Schlangen und Eidechsen teilen. Auch darauf möchte man in Offenbach aufmerksam machen. Schreckenspraktiken wie diese rufen zu Recht Aktivisten auf den Plan. Allerdings verzerren sie auch die öffentliche Wahrnehmung der restlichen Branche.

Besonders in der Rinds- und Schweinslederproduktion bedienen sich Gerber bei der Fleischindustrie, wo die Häute ein Abfallprodukt sind. Sinkender Fleischkonsum lässt diese Rechnung immer weniger aufgehen. Eine Alternative ist etwa recyceltes Leder. Der italienische Möbeldesigner Enrico Marone Cinzano ist für seine nachhaltigen Möbel und Lampen berühmt. Auf der Möbelmesse Salone del Mobile stellte er einen Schaukelstuhl vor, der aus Autoteilen sowie dem Ledersitz eines ausgedienten Alfa Romeo gefertigt war. Der Blick richtet sich auf Vorhandenes, um Neues zu kreieren, auch das entspricht dem Zeitgeist.


Das Ledermuseum zieht daher viele Designer an. Neben den unterschiedlichen Gestaltungen führt vor allem die traditionelle Verarbeitung zurück auf vergessene Herstellungswege. Hugo Eberhardt hätte das gefallen. Als er die ersten historischen Objekte zusammentrug, hatte er die Vision eines Weiterbildungsortes für Lederwarenproduzenten, junge Handwerker und Designer. Den Standort wählte er mit Bedacht, schließlich war Offenbach damals als Lederstadt Deutschlands weltbekannt. Seine Sammlung wuchs stetig und umfasst heute mehr als 30.000 Exponate. Von den ehemals über 400 Offenbacher Lederwarenherstellern mussten die meisten längst schließen. Zu groß sind Konkurrenz und Preisdruck auf dem globalisierten Markt.


Überlebenschancen bietet offenbar die Nische, wie eine handgefertigte goldglänzende Handtasche aus dem Hause Comtesse zum Thema „Erwachsen werden“ zeigt. 1993 sah man die japanische Kronprinzessin Masako bei ihrer Hochzeit mit jenem Model, das heute „Princess“ heißt. Der Taschenhersteller hat sich auf die Verarbeitung von Rosshaar spezialisiert. Kurz nach der Jahrtausendwende meldete der Mutterkonzern „Egana Goldpfeil“ Insolvenz an. Comtesse überlebte mit einer neu gegründeten GmbH im Luxussegment. Konkurrent „Goldpfeil“ blieb zum Schluss nur noch der Verkauf sämtlicher Rechte an das Kaffee- und Einzelhandelsunternehmen Tchibo.

Geschichten, die der Naturstoff erzählt

Das Lebensende bestimmt auch das letzte Objekt der Ausstellung – ein ägyptischer Totenkranz aus dem 1. bis 3. Jahrhundert. Rhombische Blätter ranken sich schrumpelig um einen Reif. Die Entscheidung, die Besucher im großen Kreis um die Objekte herumlaufen zu lassen, entpuppt sich hier als geschickter Kunstgriff. Ein paar Schritte weiter steht wieder der Spielzeugelefant und erinnert daran, dass Tot und Geburt häufig nahe beieinander liegen. Der Kreislauf des Lebens schließt sich.


Auch für das restliche Museum soll eine neue Zeit anbrechen. Eine, in der Besucher keine Lichtschalter mehr suchen müssen oder so prominente Stücke wie die weißen Sneaker von Joschka Fischer übersehen, weil die Vitrine allzu überfüllt ist. Anlässlich des Jubiläumsjahres stellte Ines Florschütz gemeinsam mit ihrem Team das Magazin auf den Kopf. Gefunden haben sie längst vergessene Schätze und ihre Geschichten. Jene, von denen eben nur ein Naturstoff berichten kann.

Zu sehen ab 17. März in der Ausstellung „Linking Leather - Die Vielfalt des Leders“. Zu finden ist das Deutsche Ledermuseum in der Frankfurter Straße 86, 63067 Offenbach am Main.

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