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"Die aus dem Westen trauten uns keinen Geschmack zu"

Hier hätte man es nicht vermutet, das Atelier für Mode nach Maß. Einmal durch die Leipziger Altstadt, vorbei an den üblichen Verdächtigen der Branche, grüßt unweit des Marktplatzes der Gegenentwurf zur Massenkonfektion: Hier feiert "Silke Wagler Couture" in diesem Jahr das 25. Jubiläum. Gerade wurde der Online-Store gelauncht.

Es gibt hier auch Einzelstücke und Selbstgeschneidertes wie Stolen, Strandkleider oder Pelzjäckchen, die nicht nach Maß gefertigt werden müssen. Viele Konkurrenten hat man überlebt. Vielleicht oder gerade weil man das Gebot des schnellen, trendgetriebenen Verkaufens bewusst ignoriert hat.

Wer die Glastür zum Leipziger Couturehaus aufstößt, wird auf die immer gleiche Art begrüßt: stürmisch und mit freudigem Gebell. Ein kleiner Münsterländer hechtet herbei, dahinter, mit wehenden blonden Haaren Frau Wagler selbst, die ihren Hund zur Ruhe ruft. Hector besinnt sich und die herzliche Inhaberin strahlt übers ganze Gesicht und reicht die Hand.

Ein Geschäft aus Trotz

Großzügig teilt sich der Laden: links alles für die Damen und rechts für Herren. In braunen Lederstiefeln in Kroko-Optik klackert die Chefin über das Fischgrätparkett. Man ist versucht, mit den Fingern über die flauschigen Wollschals zu streichen, die Ornamente der Brokatstoffe mit der Fingerspitze nachzuzeichnen, die Kühle der Seidenkleider zu erfühlen. Die kultivierte Atmosphäre zügelt Gelüste dieser Art. Auch die Kleiderstangen sind nur locker bestückt. Überladen geht es nur in den Modeläden ein paar Meter weiter zu. Eine Wendeltreppe, die jede Grande Dame ob des potenziell großen Auftritts die Tränen in die Augen treibt, führt ins offene, obere Stockwerk.


25 Jahre ist es her, kurz nach der Wende, dass sich die gelernte Theaterschneiderin entschloss, ihr Geschäft in Leipzig zu eröffnen. Hier lagen ihre Wurzeln - und noch viel wichtiger - hier hatte sie für ein vereinigtes Deutschland demonstriert: "Viele Menschen haben Leipzig nach der Wiedervereinigung den Rücken gekehrt. Das hat bei mir eine Trotzreaktion ausgelöst", sagt die heute 47-Jährige. Konkurrenz hatte sie damals kaum: "Die aus dem Westen haben uns damals nicht viel zugetraut. Besonders nicht in Sachen Geschmack. Die großen Läden kamen und brachten den Ramsch mit, den sie im Westen nicht los wurden, aber dachten, uns unterjubeln zu können."

Ein Missverständnis, dass sich für die junge Unternehmerin als Chance entpuppte. Als Bewohner einer ehemaligen großen Messestadt hatten die Leipziger genug Eindrücke gesammelt, um einen guten Geschmack auszubilden. Wer sich mit dem Angebot der neuen Läden nicht zufrieden geben wollte, musste also anfertigen lassen und landete fast zwangsläufig im Atelier von Frau Wagler. Zweimal zog sie um, bis sie ihren heutigen Laden, das Atelier im Dach und Ausstellungsräume im Untergeschoss, in einem Jugendstil- Altbau von 1900 unterbrachte.

Hier gibt es nur Unikate

Schwermut schwingt mit, wenn die Designerin über ihre Zeit am Theater spricht. Vermisst habe sie sie zu Anfang ihrer Karriere als Maßschneiderin. Vor einigen Jahren führte der Weg über ein Sponsoring der Hochschule für Theater und Musik in Leipzig wieder dorthin zurück. Mit ihrem Team entwarf sie die Kostüme für die Bühnenauftritte der Schauspieler und Musiker. "Ich mag die Ausdrucksstärke und Dramatik, die in solchen Kostümen stecken. Trotzdem darf die Kleidung den Akteuren bei ihrer Arbeit nicht im Weg sein." Anforderungen, die die meisten Stücke von der Stange nicht erfüllen können.


Gerade wenn es um besondere Anlässe wie den Abiball oder eine Hochzeit geht, braucht es schon mal zwei Termine und ein bisschen Bedenkzeit dazwischen, bis der erste Entwurf auf Papier entstehen kann. "Letztlich möchte ich meinen Kunden Unikate verkaufen, die in Farbe, Material und natürlich der Passform komplett auf sie zugeschnitten sind. Ich würde auch niemals ein Kleid von einem Foto eins zu eins nachfertigen." Aus der Schneiderin wurde im Laufe der Jahre eine Zuhörerin. Das Team in der Werkstatt oben im Dachgeschoss verwandelt die Ideen in Kleidungsstücke. Allzu fern ist sie dem Rattern der Nähmaschinen aber nicht - ihr Büro liegt gleich nebenan.

Durch die schrägen Dachfenster fällt gedämpftes Licht, jener spärliche Rest, der nicht von den massigen Regenwolken verschluckt wird, die über der Stadt hängen. Kleine Werkbänke mit Nähmaschinen reihen sich entlang der Fensterfront. In der Mitte des Raumes, zwei große Arbeitstische. Einer für die Schnittdirektrice, deren Aufgabe die Schnitt-Schablonen sind, nach denen der Stoff zugeschnitten wird. Auf dem zweiten Tisch liegen Bücher mit bunten Stoffschnipseln aus Seide und Baumwollgemischen. Neben dem Sehen ist auch das Fühlen entscheidend.

Herr Fitz und Herr Fummel

Zuschnitte aus Spitze mit aufgenähten Blüten aus Pailletten warten neben einer Schneiderpuppe in einem halbfertigen Outfit, an ihren Platz zu kommen. Eine Brautmutter wird das Ensemble aus Top, Hosenrock und mit Spitze verzierter Jacke auf der Hochzeit ihrer Tochter tragen. 58 Arbeitsstunden stecken bereits darin.


Am Bügeltisch bemüht sich eine der Angestellten, letzte Falten aus einer Damen-Smokingjacke zu bügeln. Heute Abend kommt die neue Besitzerin zur Anprobe, morgen wird sie die Jacke auf dem Filmball tragen. Doch der Stoff will sich nicht glätten lassen. Silke Wagler hievt etwas aus dem Regal, dass aussieht wie ein Dinosaurier-Ei und fragt, ob noch etwas Kaffeesatz da sei. Makellos, durch Kaffee? Ja, der mache den ungewollt glänzend gebügelten Stoff wieder matt. Zum Anpacken ist sie sich jedenfalls nicht zu schade: Immer wieder bügelt, pustet sie und streicht den Stoff mit den Fingern glatt. Ihre Wangen gewinnen zusehends an Farbe. Nichts zu machen. Alle Mühe und auch das Bügel-Ei können den Stoff nicht entknittern. "Wann kommt die Kundin?", erkundigt sich Silke Wagler. Es hilft nichts, noch einmal alles auftrennen, eine Spezialnaht soll dem Stoff die Falten austreiben. Eine Sisyphusarbeit. Man nimmt es mit Humor und verweist auf Herrn Fitz und Herrn Fummel.

Zum Jubiläum hat sich Silke Wagler nämlich ein Logo für ihr Atelier entwerfen lassen. Zwei sich zugewandte Affen, eben Herr Fitz und Herr Fummel, die ihre Nähnadeln kreuzen. "Die beiden stehen für Teamwork, die Fäden, die sich manchmal verheddern und das Gefummel, sie wieder Ordnung zu bringen", erklärt Silke Wagler. Es hat sich gelohnt. Nicht nur für das Atelier Wagler. Inzwischen gibt es in der Stadt wieder einige Maßschneider. Sie bieten modischen Leipziger Allerlei selbstbewusst die Stirn.

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