Meine Freunde sind auf der ganzen Welt verteilt“. So lautet die deutsche Übersetzung einer Zeile der inoffiziellen Heimat-Hymne der ex-jugoslawischen Rockband Bajaga & Instruktori. Ein Song, der alle Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawiens vereint hat. Die Textzeilen transportieren ein Gefühl der Zugehörigkeit und sind eine Ode an den unbezwingbaren Optimismus für ein Land, das von Kriegen und Zerstörung heimgesucht wurde. Es greift die Essenz der Balkan-Mentalität auf: alles ist gut, solange man zusammen ist.
Aus diesem Grund treffen diese Zeilen auf viele Ex-Jugoslawen in Vorarlberg und Opfer der Diaspora weltweit zu. Sie haben ihre ursprüngliche Heimat verlassen und in verschiedenen Teilen der Welt ein neues Zuhause gefunden. In den Wirren des Krieges in den 1990er Jahren sind sie aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen worden, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Die geografische Nähe zum Westbalkan und der Wohlstand machten Österreich zu einem beliebten Ziel. Über eine halbe Million Österreicher haben ihre Wurzeln am Westbalkan. Vorarlberg ist nach Wien das Bundesland mit den größten Anteilen nicht-österreichischer Staatsbürger.
Reisewarnung. Für die migrantische Community in Österreich sind die Sommermonate eine spezielle Zeit. Es ist die Zeit, in der sie üblicherweise zu ihren Wurzeln zurückkehren. Diesen Sommer fällt der Urlaub in der alten Heimat aus: Migranten werden zu Opfern der Corona-Pandemie, ohne jemals daran erkrankt zu sein. Für sie bedeuten die Reisewarnungen nicht nur eine erschwerte Rückreise mit Quarantäne und Testpflicht. Die Reiswarnung bedeutet, dass sich Familien nicht wiedersehen können, notwendige Projekte am Ferienhaus nicht durchgeführt werden können und die Sehnsucht wächst. Der Aufruf der Bundesregierung den Sommer in Österreich zu verbringen, schmeckt wie eine bittere Pille. Das Gefühl des „zu Hause Ankommens“ fehlt und Urlaub alternativ in Österreich zu verbringen scheitert an hohen Preisen in Urlaubsregionen oder am Festhalten wollen von Traditionen.
Ein Großteil der Diaspora-Mitglieder aus dem ehemaligen Jugoslawien hat sich gut integriert und lebt bereits in zweiter oder dritter Generation hier. Das steht aber in keinem Widerspruch zu dem Wunsch, trotzdem im Sommer in die alte Heimat zu fahren. Die Coronakrise mit ihren einhergehenden Regelungen und Beschränkungen macht das allerdings schwer. Mit Ausnahme Kroatiens und Sloweniens gilt die von der österreichischen Regierung bestimmte höchste Reisewarnstufe sechs für den Westbalkan.
Die steigenden Infektionszahlen brachten Frauen- und Integrationsministerin Susanne Raab dazu, klare Worte zu sprechen. Auf Twitter appellierte sie speziell an Menschen mit Migrationshintergrund, die Reisewarnungen des Außenministeriums zu Türkei und Serbien ernst zu nehmen. Österreicher ohne Migrationshintergrund wurden bei diesem Appell ausgespart. Das sorgte landesweit für Kritik, erweckte der Tweet doch den Anschein Menschen mit Migrationshintergrund könnten keine Regeln einhalten und wären ein Risikofaktor.
Anders behandelt. Ein Vorarlberger, der geplant hätte, denSommer in seinem Elternhaus in Bosnien zu verbringen, ist Miroslav Colic. Der 43-Jährige ist im 200 Seelen Dorf Bjelajci aufgewachsen, bevor er mit seinem älteren Bruder mit 13 Jahren nach Bregenz gezogen ist. Seine Eltern waren bereits zuvor als Gastarbeiter nach Österreich gekommen. Der Dachdecker fühlt sich in Vorarlberg zuhause und schätzt sich glücklich in seiner geräumigen Wohnung in Hard zu leben. „Egal wie schön der Urlaub war, mein persönliches Highlight ist immer, wenn ich auf dem Nachhauseweg die Ortstafel Hard sehe“, schwärmt der Hobby-Fußballer. Heuer wird er die Reise nach Bjelajci nicht antreten können.
Auf die Worte von Ministerin Susanne Raab reagiert er nicht überrascht „Ich bin es gewohnt. Jugos und Türken werden in Österreich anders behandelt als ein Engländer oder Amerikaner“, sagt Colic. Diesen Sommer wäre er gemeinsam mit seiner Frau Jelena auf eine Hochzeit nach Bosnien gefahren. Es wäre aber nicht irgendeine Hochzeit gewesen, sondern die Hochzeit einer langjährigen Freundin von Jelena. Die beiden haben bereits als Kinder zusammen gespielt. Die Hochzeit wurde wegen Corona abgesagt und Jelena wird nicht wie geplant ihrer Freundin am schönsten Tag ihres Lebens beistehen können.
„Wir haben unseren ganzen Urlaub auf Bosnien konzentriert und bereits im Vorjahr geplant“, erklärt der 43-Jährige. Die Hochzeit ist nicht das einzige Event in Bosnien, welches ausfällt. Das große und lang geplante Familientreffen wird auch nicht stattfinden. Es wären Familienmitglieder aus der ganzen Welt, von Australien bis Österreich, zusammengekommen. Ein kleiner Trost für ihn war, dass er zumindest seine beiden in Bosnien lebenden Eltern Stanojka und Duško vor einigen Monaten noch sehen konnte, als sie zu Besuch in Vorarlberg waren. Das nächste Wiedersehen wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Es sind nicht nur die zwischenmenschlichen Momente, die den Urlaub „unten“ – wie der Balkan von vielen Ex-Jugoslawen genannt wird – zu einem Highlight des gesamten Jahres machen. Colic schöpft in seinem Urlaub Zuhause Kraft für das ganze restliche Jahr. Der erste Morgen in Bjelajci ist ihm heilig, er genießt ihn sehr. „Die Sonne scheint, ich bin alleine und blicke auf die grüne Wiese hinter unserem Haus. Das lädt meine Batterien auf.“
„Urlaub Zuhause ist Freiheit“. Ein ähnliches Schicksal trifft auch Stefan Miric. Der 24-Jährige ist in Bregenz geboren, hat aber Wurzeln in Kladovo, Serbien. Als er noch die Handelsakademie in Bregenz besucht hat, hat er jeden Sommer seine Großeltern für zwei Monate besucht. Diesen Sommer wird Miric seine Großeltern und das große Haus mit Pool nicht sehen können. „Ich verbinde meinen Urlaub zu Hause immer mit Freiheit“, sagt der leidenschaftliche Weltenbummler.
Miric schätzt die Idylle des Dorflebens in Serbien besonders als Kontrast zum Leben in Bregenz.
Wenn es ein normaler Sommer ohne Corona wäre, würde Miric seinen angesparten Urlaub verwenden und mindestens drei Wochen zu seiner Familie nach Kladovo fahren. Dort würde er kostbare Zeit mit den Seinen Verbringen und jene Freundschaften pflegen, die sich bereits in seinen Urlauben im zarten Alter während der Schulzeit gebildet haben.
„Ich fühle mich überall Zuhause“. Die Urlaubsplanung der dreifachen Mama Anita Kokic ist ähnlich wie die von Miric. Den Großteil des Sommers verbringt sie gemeinsam mit ihrer Familie in ihrem Ferienhaus in der Nähe von Zadar in Kroatien. Kokic macht in ihrem zweiten Zuhause dasselbe, was sie in Hard auch tun würde: „Ich fühle mich dort ebenso sicher. Ich kenne mich aus. Der nächste Laden ist um die Ecke. Ich habe dort alles was ich brauche.“
Kokics Eltern sind als Gastarbeiter 1960 von Herzegowina nach Österreich gekommen. Sie selbst ist in Hard geboren und dehnt die Bedeutung des Wortes Zuhause aus. „Mein Zuhause ist da, wo ich mich wohl fühle. Das hat nichts mit einem Ort zu tun“, ergänzt die 41-Jährige.
Trotz Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Leben in Hard und Zadar, gibt es Momente, in denen Kokic die unterschiedlichen Lebensarten bewusst werden. „Es ist alles ein bisschen langsamer in Kroatien. Hier noch ein Kaffee, da noch ein Kaffee. Ohne Termine und ohne Stress“, erklärt die Harderin. Diese Entschleunigung schätzt sie in Zadar besonders und hilft ihr den Alltagsstress in Vorarlberg zu vergessen. Wenn sie lange an einer Supermarktkassa warten muss oder wichtige Termine doch nicht eingehalten werden, merkt Kokic wie sehr sie die österreichische Taktung und Organisation übernommen hat. Diese lässt sich aber nicht immer mit der an der Küste gelebten Laissez-Faire-Einstellung vereinbaren.
Fest steht, dass die Schicksale von Kokic, Colic und Miric eines gemein haben: Was heuer wegfällt, ist kein Urlaub. Es sind Momente der Identität, des Zugehörigkeitsgefühls und der Familie, die wegfallen.
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