Jewgenija Markowa kümmert sich nicht um den argwöhnischen Wächter des Parkplatzes am Moskauer Stadtrand, auf dem sie über Nacht ihren Lastwagen abgestellt hat. Die 35-jährige Fernfahrerin schreitet an ihm vorbei zu ihrem 20-Tonner, schließt die Tür zur Fahrerkabine auf, stellt die Spiegel ein und fährt los. Um 7.30 Uhr, vor Schichtwechsel, will sie mit ihrer Fracht in einer Fabrik in der Stadt Jachroma sein - das bedeutet eineinhalb Stunden Fahrt, bevor mit Sonnenaufgang auf den Moskauer Straßen das Chaos ausbricht.
„Es gibt unterschiedliche Reaktionen auf mich", erzählt sie. „Von einem banalen ‚Wie schön, Sie zu sehen, ich wünsche Ihnen Erfolg!' bis zu einigen, die das Handy zücken und mich ungefragt fotografieren." Eine Frau am Steuer eines Lastwagens löst in Russland Aufregung aus. Denn bis vor kurzem durften Frauen überhaupt nicht als Fernfahrerinnen arbeiten. Speditionen, die Frauen einstellten, hätten ein Bußgeld von umgerechnet knapp 3.000 Euro zahlen müssen - für Fernfahrer*innen in Russland sind das drei bis vier Monatsgehälter.
Das gesetzliche Verbot, das noch für insgesamt 456 Berufsbilder gilt, geht auf eine Liste des Arbeitsministeriums aus dem Jahr 1978 zurück. Sie wurde seitdem trotz des technischen Fortschritts nur geringfügig angepasst, ist also ein Relikt der Sowjetunion - sie stammt aus einem politischen System, das absolute gesellschaftliche Gleichheit versprach und Frauen in technischen und handwerklichen Berufen als Selbstverständlichkeit propagierte. Manch ältere Russinnen, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, sehen das noch heute so.
„Wir sind absolut gleichberechtigt aufgewachsen und haben uns nie als Menschen zweiter Klasse gesehen", meint Alla Kirilina, Russlands renommierteste Wissenschaftlerin für Genderlinguistik. Sie hatte bis 2007 die Professur für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft an der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität inne und hat jahrzehntelang Geschlechterfragen in der russischen und deutschen Sprache erforscht. Die heute 60-jährige Philologin denkt mit Nostalgie an das Leben in der UdSSR zurück. Davon zeugt nicht zuletzt ihre private Sammlung sowjetischer Porzellanfiguren, die Frauen im Berufsleben zeigt.
Stolz hebt sie die Figuren aus der Vitrine, die im Wohnzimmer ihres Hauses im Moskauer Süden steht, und stellt sie auf den Esstisch: zwei Geologinnen mit Stock und Notizbuch, eine Schweißerin mit Schutzmaske, eine Schweinezüchterin. Beim Blättern in einem Sammlerkatalog findet sie sogar die Figur einer Lokführerin mit Blaumann und Schirmmütze aus dem Jahr 1949 - auch ein Beruf, der Frauen drei Jahrzehnte später verboten wurde. „Diese Liste von für Frauen ungeeigneten Berufen war eigentlich vor allem mit körperlicher Schwerstarbeit oder Arbeitsbedingungen verbunden, die für die Gebärfähigkeit schädlich sein könnten", sagt Kirilina.
Frauenrechtlerinnen in Russland weisen zwar darauf hin, dass es für eine Gefährdung der reproduktiven Gesundheit durch die gelisteten Berufe keinerlei wissenschaftliche Beweise gibt und Frauen selbst entscheiden sollen, ob Mutterschaft für sie überhaupt ein Ziel ist. Aber die Überzeugung, dass Frauen ihre Gebärfähigkeit unbedingt erhalten und nutzen sollen, ist in der russischen Gesellschaft tief verankert. Wer als Frau raucht, schwer hebt oder viel Alkohol trinkt, riskiert eine lautstarke Zurechtweisung von Fremden: „ Ty zhe dewuschka - Du bist doch ein Mädchen!" So werden Frauen in Russland oft bis zur Lebensmitte genannt, weil das Wort mit Freundlichkeit und Lieblichkeit konnotiert ist.
„Wenn jemand dir sagt: ‚Du bist doch ein Mädchen!', dann bedeutet das...
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