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Verdeckte Armut in Krisenzeiten: "Wollte es selbst schaffen"

Es sind Menschen wie Karl Balan, dessen Namen wir geändert haben. "Klamotten und Schuhe kaufen wir schon lange nicht mehr, seit Jahren nicht", erzählt er. Damit meint er sich und seine Frau. "Wir wollen in unserem Alter auch nicht mehr so viel essen, aber trotzdem brauchen wir etwas", sagt Balan. Grundbedürfnisse. Er wolle sich nicht beschweren, aber er fühlt sich vergessen.

Seit zwei Jahren ist er in Rente, seine Frau und er bekommen netto jeweils rund 400 Euro. Das Paar wohnt zusammen in der Nähe von Nürnberg. Karl Balan hat lange als Kassierer oder Kellner gearbeitet - 23 Jahre im selben Restaurant.

Hat er überlegt, die Rente aufzustocken? Sich zu informieren, ob das möglich wäre? "Nein, das haben wir nie überlegt. Ich habe immer gehofft, dass ich nur von der Rente leben kann." Saisonbedingt sei er mal eine Zeit arbeitslos gewesen, im Winter, daran habe er keine guten Erinnerungen.

Jeder zweite beantragt womöglich kein Hartz IV

"Eigentlich müsste der Sozialstaat dafür sorgen, dass er alle Hilfsbedürftigen erreicht", sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Butterwegge geht jedoch davon aus, dass jede zweite Person, die Hartz IV beantragen könnte, es nicht tut. Diese sogenannte Quote der Nicht-Inanspruchnahme läge bei Grundsicherung im Alter sogar noch höher - womöglich bekomme sie nur einer von drei Antragsberechtigten.

Die Gründe sind vielfältig: Scham, Überforderung, psychische Erkrankungen, Unwissen oder Furcht vor der zu erwartenden Bürokratie. Das habe dem Staat laut Butterwegge bisher eine Menge Geld gespart und daraus folge jetzt, dass manche Menschen kaum bis gar nicht entlastet würden. "Diejenigen, die kein Wohngeld beantragt haben, bekommen den Heizkostenzuschuss aus dem ersten Entlastungspaket nicht. Und wenn Hartz IV und Grundsicherung im Alter nicht beantragt wurde, bekommt man natürlich auch die spätere Einmalzahlung von 200 Euro nicht."

Auch eine Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Zwar werden viele gesellschaftliche Gruppen "umfassend entlastet", aber bei einer alleinlebenden Person im Ruhestand mit einem Nettoeinkommen von unter 900 Euro sehe es anders aus: Sie werde nur für zehn Prozent der zusätzlichen Kosten entlastet.

Stolz als Grund, keine Hilfe zu beantragen

Anton Menacher verkauft seit Jahren regelmäßig Ausgaben der Münchner Straßenzeitung BISS. Die Inflation merkt er bei der täglichen Arbeit an weniger Kunden: "Leute, die früher gern bei mir gekauft haben, machen das jetzt nicht mehr. Die müssen jetzt selber rechnen." Weniger verkaufte Zeitungen, bedeutet auch weniger Trinkgeld. Unterstützung vom Staat beantragen? Nein, er sei stolz darauf, dass er ein Wohnheimzimmer ganz alleine stemmen könne - bisher. "Man wollte es halt selbst schaffen. Aber jetzt geht es eventuell nicht mehr anders", sagt er und erzählt von einem Termin bei einer Sozialarbeiterin, mit der er das Thema zeitnah besprechen möchte.

Verdeckte Armut ist insofern verdeckt, als dass es Experten und Expertinnen zufolge keine genauen Zahlen gibt, wie viele Menschen tatsächlich keine Leistungen beantragen, obwohl sie berechtigt wären. Unsichtbar sind die einzelnen Geschichten deswegen aber nicht: Unter dem Hashtag #IchBinArmutsBetroffen, der in den letzten Wochen auf Twitter trendete, finden sich teils ähnliche Geschichten wie die von Karl Balan und Anton Menacher. Auch eine Entstigmatisierung ist das Ziel. In Berlin gab es Demonstrationen unter dem selben Slogan. Im Koalitionsvertrag taucht das Stichwort einmal auf: "Bei der Erstellung des 7. Armuts- und Reichtumsberichts richten wir auch einen Fokus auf verdeckte Armut und beziehen Menschen mit Armutserfahrung stärker ein." Was müsste politisch passieren, um verdeckte Armut zu adressieren?

DIW-Präsident Fratzscher: "Gigantische Herausforderungen"

Langfristig müsse der Staat viel proaktiver werden und früher ansetzen, um zu verhindern, dass Menschen in Armut rutschen, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Ökonom sieht zwei weitere Probleme in den Sozialsystemen: Es sei zu komplex und die Leistungen seien häufig nicht ausreichend hoch. Das seien "gigantische Herausforderungen", die die Politik im Blick haben müsse, so Fratzscher.

Was Menschen angeht, die bisher durchs Raster fallen, befürwortet er perspektivisch Daten von Steuer- und Sozialbehörden zusammenzuführen, wie von der Bundesregierung angekündigt: "Die Informationen sind vorhanden, nur in verschiedenen Systemen", so Fratzscher. Für zielgerichtete Entlastung sei es notwendig, zu wissen, wer in welchem Haushalt lebe, wie hoch das Haushaltseinkommen sei und man müsse auch Kontaktdaten kennen. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge sieht das mit Blick auf den Datenschutz ambivalent: Je mehr die Ämter voneinander wissen, desto "gläserner wird der Bürger oder die Bürgerin". Falls diese Vernetzung aber tatsächlich zu flächendeckenden Unterstützungsleistungen genützt würde, sei das sinnvoll.

Weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung?

"Wir haben uns insgesamt vorgenommen, Sozialleistungen unbürokratischer und vor allem auch digital zu machen", sagt Stephanie Aeffner, Grünen-Abgeordnete und Mitglied des Bundestags-Ausschusses "Arbeit und Soziales". Die Leistungen seien "Rechtsansprüche, keine Almosen". In Sachen Digitalität verweist sie auf das geplante Klimageld. Aeffner räumt aber auch ein, dass es angesichts der aktuellen Inflation definitiv Menschen gebe, die die Ampel-Koalition mit ihren bisherigen Entlastungspaketen nicht erreicht habe. Da direkte Auszahlungsmechanismen noch entwickelt werden müssten, brauche es jetzt Zwischenschritte. Denkbar wäre, bei kommenden Entlastungen Daten der gesetzlichen Rentenversicherung zu nutzen.

Der Verkäufer der Münchner Straßenzeitung BISS, Anton Menacher, meint, ihm wäre in der aktuellen Krise am schnellsten geholfen, wenn die Lebensmittel-Preise sinken würden: "Dass das auch wirklich an die Verbraucher weitergegeben wird." Eine Mehrwertsteuersenkung? Armutsforscher Butterwegge ist skeptisch: "Derjenige, der den Edelkäse kauft, würde sehr viel mehr profitieren, als derjenige, der den Plastikkäse kauft." Heißt: Diejenigen, die viel konsumieren, würden mehr profitieren als arme Menschen.

Langfristiges Auseinanderdriften verhindern oder akut entlasten?

Aber günstigere Lebensmittel würden doch zumindest wirklich alle erreichen? Kommt man um die Gießkanne wirklich herum, wenn man das Problem verdeckte Armut ernst nimmt? Dass eine Gruppe von Menschen weder steuerpflichtig ist noch Transferleistungen bezieht und so aktuell kaum entlastet wird?

"Ich tue mich schwer damit, weil das mehr soziale Ungerechtigkeit schaffen würde", so Butterwegge. Die Kluft zwischen Arm und Reich würde so tiefer. Ein gesamtgesellschaftlicher Zielkonflikt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat zum Ende dieser Woche angekündigt, dass Rentner und Rentnerinnen definitiv beim nächsten Entlastungspaket mitgedacht werden sollen. "Wir haben uns fest vorgenommen, dass wir sicherstellen, dass alle unterstützt werden, die Unterstützung brauchen", hat Scholz im MDR gesagt - und wird sich daran messen lassen müssen. Die bisherigen Maßnahmen haben jedenfalls längst nicht alle erreicht, die in Armut leben.

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