6 subscriptions and 2 subscribers
Article

"Nicht noch ein Krieg - ich weiß, was das bedeutet"

Jalal Mawlawi war im syrischen Aleppo Schauspieler und TV-Moderator. In Nachrichten- und Politiksendungen hat er Menschen informiert, viele Gespräche geführt. "Irgendwann habe ich entschieden, dass ich mich im Fernsehen lieber Psychologiethemen widmen möchte", erzählt Mawlawi, der heute in München lebt. "Weil es seelisch chaotisch war, für uns alle in Syrien."

Heute arbeitet Jalal Mawlawi als psychosozialer Berater bei Refugio, einem Zentrum, das traumatisierte Geflüchtete aufnimmt und berät. Als der Krieg in der Ukraine begann, war er besorgt. Seine ersten Gedanken: "Nicht noch ein Krieg - weil ich weiß, was das bedeutet." Manche seiner Freunde aus sind nach 2015 aus Syrien in die Ukraine geflohen, haben dort geheiratet oder eine Familie gegründet. "Das ist einfach krass". Sie schreiben ihm: "Wir sind von einem Krieg in den nächsten gekommen."

Der aktuelle Krieg weckt sofort Erinnerungen

In den langen Gängen der sechsstöckigen Einrichtung hängen zwischen Behandlungszimmern und Teeküche überall mehrsprachige Plakate. Wenn Jalal Mawlawi jetzt die Nachrichten über Menschen, die aus der Ukraine fliehen müssen, sieht er viele Parallelen zu seinen eigenen Erinnerungen: "Sie sind in einem Schockzustand." In sozialen Netzwerken bekommt er Videos geschickt, die die Zerstörung in Syrien und der Ukraine vergleichen.

Ein Besuch im Münchner Café Bellevue di Monaco - einmal pro Woche findet dort das Frauencafé statt, organisiert von dem Verein Juno. Hier treffen sich zum Beispiel Frauen mit ihren Kindern aus Afghanistan, dem Iran, Äthiopien oder Somalia. Es gibt selbstgekochtes Essen und Musik. Einige tanzen, andere gehen zwischendurch zum Beten in den Nebenraum. Kurz sind die steigenden Lebensmittelpreise Thema. Eliza ist in der armenischen Hauptstadt Jerewan aufgewachsen - und spricht russisch, wie viele, die jetzt aus der Ukraine kommen. Sie hat sich als Dolmetscherin gemeldet: "Vielleicht kann ich bei den Behördengängen helfen".

Mitgefühl, Solidarität und Resignation

Mitgefühl, Solidarität - und Resignation. "Wenn man jetzt die Nachrichten hört, dann merkt man sofort, wie man über Geflüchtete aus Ukraine spricht und wie über Geflüchtete aus Afghanistan oder afrikanischen Ländern", merkt Eliza an.

Man muss nicht lange suchen, um zu wissen, was sie meint. Es sind Aussagen von Talkshow-Gästen oder Journalisten - wie etwa: "Es ist unser Kulturkreis, es sind Christen" ("Hart aber fair"), "dieses Mal echte Flüchtlinge" (NZZ) oder geäußertes Verständnis dafür, "dass die Willkommenskultur bei uns hier in Deutschland [...] eine ganz andere ist als bei früheren Flüchtlingskrisen" (stern TV).

Die Neuen deutschen Medienmacher*innen, ein Netzwerk für mehr Vielfalt im Journalismus, warnen vor Retraumatisierung und kritisieren: "Eine solche Hierarchisierung ist rassistisch und weder notwendig noch journalistisch". Teilt Deutschland Geflüchtete also in zwei Klassen ein?

Empathie geprägt von "kolonialer Ungleichheitsbrille"?

Sabine Hess forscht seit über 20 Jahren zu Flucht, Migration und Rassismus: "Dass wir scheinbar nicht in der Lage sind eine grenzenlose Empathie und Solidarität zu fühlen, lässt sich deutlich als eine über Jahrhunderte aufgebaute koloniale Ungleichheitsbrille verstehen." Diese sei auch in Gefühlswelten eingezogen. Was man dagegen tun könne? Die eigene Wahrnehmung anzuerkennen und diese „ernsthaft umzuarbeiten".

Wobei Hess, die aktuell an der Georg-August-Universität Göttingen arbeitet, auch an die mindestens genauso große Hilfsbereitschaft an den Bahnhöfen im Jahr 2015 erinnert. Sie meint, die Gesellschaft sei damals schon weiter als gewesen als die Regierung. Dass Regierungen und Staaten diese Willkommenskultur im Jahr 2015 nicht weiter aufgegriffen und gefördert hätten, bezeichnet die Flucht- und Migrationsforscherin "als einen der entschiedensten Fehler in der europäischen Politik der letzten Jahre".

Neue EU-Richtlinie, die 2015 nicht zum Einsatz kam

Seit Jahren konnte sich die EU nicht auf eine gemeinsame Linie in Flucht- und Asylpolitik einigen. Höchstens auf Abschottung, wenn man an Pushbacks im Mittelmeer oder überfüllte Flüchtlingslager in Griechenland denkt. Doch jetzt kommt etwas zum Einsatz, das etwa 2015 bei Flüchtenden aus Syrien nicht passiert ist: Die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie. Menschen aus der Ukraine dürfen ihren neuen Wohnort flexibler wählen, bekommen verlängerbaren Schutz für mindestens ein Jahr und dürfen arbeiten.

Auch Abbas Saad Fadhil Fadhil aus Erlangen äußert deutliche Kritik an bisherigem Prozedere in der deutschen Asylpolitik. Nach einer dreiwöchigen Flucht aus dem Irak hat er lange in einer Unterkunft einem eher abgeschiedenen Industriegebiet gewohnt. Nach sieben Jahren hat er noch keine Aufenthaltserlaubnis. "Ich weiß manchmal nicht, was die Politiker von uns wollen - sie nehmen uns auf, aber wir dürfen nicht mal zwei Kilometer weiter umziehen, ohne einen Antrag stellen zu müssen". Als Mensch mit Fluchterfahrung hofft er, dass man bei der Ukraine jetzt "einen Plan" habe - auch für den Fall, dass der Krieg noch deutlich länger dauern sollte.

"Unterstützung darf nicht an Bahnhöfen aufhören"

Dass jetzt erneut viele Helfer und Helferinnen am Bahnhof stehen, findet die Marburgerin Freshte Akbari sehr gut: "Eine wichtige Geste." Sie kam selbst mit 14 Jahren in Deutschland an, wohnte zuerst in einer Unterkunft Bayern. Sie ist in Kabul aufgewachsen und arbeitet als zahnmedizinische Fachangestellte, hat schon erste Ukrainerinnen behandelt. Was ihr bekannt vorkommt: Wie schnell sich die Situation ändern kann. Sie hat letzten Sommer noch ihren Vater in Afghanistan besucht - eine Woche bevor die Taliban erneut die Macht übernahmen, ging ihr Rückflug nach Deutschland.

Jalal Mawlawi, der 2018 über die Türkei nach Deutschland gekommen ist und heute selbst bei Refugio in München traumatisierte Flüchtlinge berät, hofft, dass Unterstützung für ankommende Menschen aus der Ukraine nicht an den Bahnhöfen aufhört: Er legt den Fokus auf seinen eigenen Berufszweig. Es sei wichtig, "die Hilfestellungen zu geben, die ich mir selbst gewünscht hätte", nämlich die psychische Situation der Neuen hier in Deutschland einzuschätzen und sie gezielt zu unterstützen.

Original