1 subscription and 0 subscribers
Feature

Die Nomaden von Neuseeland

Work and Travel ist seit einigen Jahren in Deutschland sehr populär. Es sind vor allem junge Menschen, die das Fernweh ins Ausland treibt. Dabei zählt nur eins: so weit weg von zu Hause wie möglich zu sein.


Es ist dunkel geworden. Daniel Gerschermann sitzt auf einem Plastikstuhl auf dem Gelände einer Apfelplantage. „Ich geh’ von mir aus in die hinterste Walachei und schlafe zwischen Schafen, Hauptsache ich gewinn’ Abstand vom Trubel in Deutschland“, sagt der 22-Jährige und zieht an seiner Zigarette. Er ist einer von denen, die das Leben in Deutschland hinter sich gelassen haben, um im Ausland zu arbeiten und zu reisen – „um den Kopf freizukriegen“, wie er sagt. „Work and Travel“ nennt sich diese Art des Reisens.

Vor wenigen Wochen kam er in Neuseeland an.

Mit Geld von seinem Vater kaufte er sich ein Auto und machte sich auf den Weg an die Ostküste der Nordinsel, um Arbeit zu suchen. Er wurde fündig. Seitdem arbeitet er täglich neun Stunden als Apfelpflücker in einem Ort namens Hastings. Die Arbeit ist hart: unter der prallen Sonne sammelt Daniel die Äpfel in einem Korb, den er vor seinem Bauch trägt. Ein gefüllter Korb wiegt knapp 20 Kilo. Es ist ein typischer Job für Backpacker, wie die Reisenden genannt werden – anspruchslos aber anstrengend.

Warum er sich die Plackerei antue?

„Die Erfahrung, die ich hier sammle, bringt mir so viel. Dafür arbeite ich von mir aus auch. Solange ich Dinge erlebe, wie zum Beispiel am größten Wasserfall Neuseelands zu stehen, Bungyjumping oder Fallschirm zu springen. Ich will einfach alles mitnehmen.“


Daniel ist nicht der einzige, den die Abenteuerlust ins Ausland zieht. Jährlich reisen zirka 160 000 Backpacker zwischen 18 und 30 Jahren für Work and Travel nach Neuseeland. 12 000 allein aus Deutschland. Es sind meist junge Menschen, die gerade Schule oder Studium beendet haben und jetzt vor einem neuen Lebensabschnitt stehen. Die wie Daniel den Kopf frei kriegen wollen.

Leute wie die beiden Argentinier Juan und Pablo. Beide hatten gutbezahlte, sichere Jobs in ihrer Heimat, gute Chancen auf Karriere. Doch sie fragten sich, wozu das ganze Geldverdienen, die Karriereleiter überhaupt gut sei. Eigentlich wollten sie doch was von der Welt sehen.

Sie kündigten, bauten ihre Zelte ab und machten sich auf den Weg nach Neuseeland. „Das war schon nicht einfach“, lächelt Pablo.

Das ist jetzt einige Monate her. Nun schauen sie nach vorn: „Ich habe einen Plan“, sagt Juan überzeugt, „der ändert sich zwar jeden Tag, aber ich habe einen.“

Das Paar will nach seiner Zeit in Neuseeland nach Australien fliegen, dann auf einem Schiff anheuern und durch den Pazifik fahren. Danach per Anhalter kreuz und quer durch Asien reisen, nebenbei irgendwie versuchen, ein bisschen Geld zu verdienen. Und dann vielleicht nach Europa – oder Amerika. „Ich will auch noch Afrika sehen“, sagt Pablo mit kindlichem Glitzern in den Augen. Große Pläne für zwei kleine Leute. Naiv? Vielleicht. Im Moment arbeiten sie noch auf dem Feld bei der Kartoffelernte in dem kleinen Ort Ashburton an der Ostküste der Südinsel. Vom Feld aus kann man die Berge sehen. Das motiviert sie. Die beiden möchten in Neuseeland Skifahren und arbeiten jetzt dafür. Täglich 12 Stunden sind sie in der Erntemaschine und sortieren Steine und Dreckklumpen von einem Fließband.


Gegenüber von ihnen, auf der anderen Seite des Fließbandes, stehen Dennis und Tabea, zwei Deutsche.

Kurz nach ihrer Ankunft in Neuseeland wussten die beiden 19-Jährigen erst mal nicht, was sie als nächstes tun sollten. Um Geld zu sparen, wohnten sie zunächst bei Einheimischen – bei einem aufstrebenden Schauspieler, einem älteren Ehepaar und in einer Multi-Kulti WG aus Arabern, einem Chinesen und einem jüdischen Türken. Im Gegenzug dafür reichte es, wenn sie Holz hackten, Bier besorgten oder freundlich Danke sagten. Als die beiden einen Plan gefasst hatten, fuhren sie wie Daniel auf die Apfelplantage in Hastings zum Arbeiten. Die Abiturienten sparten genügend Geld an und machten sich auf den Weg, um die Nordinsel zu erkunden – quer durch Gebirge und Regenwälder. In der Zwischenzeit wurden sie ein Paar und sind jetzt wieder am Arbeiten.

Wie Juan und Pablo helfen sie zusammen mit ausländischen und einheimischen Arbeitern bei der Kartoffelernte. Bei der monotonen Arbeit hat man viel Zeit zum Nachdenken und Reden. Man erzählt sich gegenseitig Geschichten – meistens die eigenen.


Während die Erntemaschine auf dem Feld Bahnen zieht, erzählt Angie ihre. Sie ist eine zierliche Frau, etwas unbeholfen geschminkt, mit schlechten Zähnen, aber gutmütigem Blick. Die Einheimische verdient schon seit ihrer frühen Jugend Geld mit Saisonarbeit. Ihr Leben hat Knicke und Risse, aufgegeben hat sie nie: eins ihrer Kinder verlor sie bei einer Totgeburt, ein zweites, ihre Tochter, bei einem Autounfall. Dann kam der Alkohol und die Abhängigkeit. Nach Jahren fand sie einen Ausweg: „Ein Medium kam zu mir“, sagt sie, „und half mir Kontakt zu meiner toten Tochter aufzunehmen.“ Erst dann konnte sie loslassen. Seitdem arbeitet sie wieder als Saisonarbeiterin. Angie hat noch zwei andere Kinder. Wenn sie von ihnen erzählt, wirkt sie gerührt und gleichzeitig stolz. Sie lächelt ein wenig, dann macht sie sich wieder an die Arbeit.

Als der Tag zu Ende ist, fährt ein klappriger Minibus die Arbeiter vom Feld in die Stadt. Die Einheimischen gehen nach Hause. Die Backpacker fahren weiter zur Jugendherberge, auch Hostel genannt. Es ist mittlerweile spät geworden als der Wagen ankommt. Von draußen kann man schon die anderen in der Küche beim Kochen sehen. Franzosen, Italiener, Uruguayer und Asiaten stehen nebeneinander am Herd. Nach dem Essen sitzen die Backpacker noch bei mittelmäßigem neuseeländischen Bier zusammen. Dann gehen alle ins Bett. Die Nacht wird kurz, denn morgen müssen sie wieder früh raus, aufs Feld.


Nach wenigen Monaten ist die Erntesaison vorbei. Einige bleiben für andere Jobs in Ashburton. Viele aber reisen weiter. Die Ostküste entlang oder ins Landesinnere in die Berge. Zu sehen, gibt es genug. Neuseelands Backpacker ziehen wie Nomaden durch das ganze Land. Ihr Credo reist immer mit: Erlebnisse sammeln – egal welche – nur so viele davon wie möglich. Dafür schlafen sie auch bei Minustemperaturen im Zelt und ernähren sich von Weißbrot und Erdnussbutter, wenn das Geld gerade knapp ist – wie so oft. Alles, nur um der Erfahrung willen.

Daniel Gerschermann wohnt inzwischen ziemlich im Süden der Südinsel. In Queenstown, der selbsternannten Partyhauptstadt Neuseelands. Wenn man von Stadt überhaupt sprechen kann, bei einer Einwohnerzahl knapp über 10 000. Verglichen mit der Umgebung ist es aber ein bunt blinkender Punkt inmitten einer unberührten Landschaft aus Bergen und Seen. Seinen Traum vom Bungyjumping hat er sich mittlerweile erfüllt.

Auch Dennis und Tabea, die beiden Deutschen aus Ashburton, sind vor einigen Tagen in Queenstown angekommen. Dennis hat sich ein traditionelles neuseeländisches Tattoo stechen lassen, „als Erinnerung“. Tabea ist Fallschirm gesprungen, „der Wahnsinn“, wie sie findet. Jetzt stehen die beiden auf dem Parkplatz vor ihrem Hostel. Ihre Sachen sind gepackt, sie wollen weiter, in den Süden. In knapp drei Wochen geht ihr Flieger zurück nach Deutschland. Davor möchten sie in Neuseeland noch ein bisschen wandern und die Westküste sehen. Die beiden laden ihre Rucksäcke ins Auto und starten den Motor. Dann fahren sie los – um den Rest des Landes zu erleben. Ein bisschen Zeit haben sie dafür noch.