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Grünen-Realo Kurt Edler: Wie der ideologische Ballast den Grünen schadet - WELT

Hamburg

Grünen-Realo Kurt Edler Wie der ideologische Ballast den Grünen schadet

| Lesedauer: 4 Minuten

Er hat die Grünen in Hamburg mitaufgebaut, im Landesverband und in der Bürgerschaft gestritten. Noch heute spart Kurt Edler nicht mit Kritik. Nun wirft er den Grünen Feigheit im Umgang mit Minderheiten vor.

Es gibt sie in jeder Partei: die Altvorderen - verdiente Politiker, die sich, losgelöst von Amt und Mandat, trauen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Nicht selten zum Entsetzen jener Parteifreunde, die aktuell um Antworten auf gesellschaftliche Probleme ringen.

Bei den Grünen zählt der Hamburger Kurt Edler, mittlerweile 68 Jahre alt, zu denen, die aus sicherer Warte regelmäßig den Finger in Wunden legen, die von den Aktiven noch gar nicht wahrgenommen werden wollen. Dabei bereitet dem Realo derzeit der Umgang mit dem Islamismus Sorge, bei dem er bei seiner Partei eine differenzierte Haltung vermisst.

Kritik sorgt auch für Glaubwürdigkeit

„In einer politischen Welt, die sich polarisiert, haben es die Grünen schwer. Es ehrt sie, dass sie sich am Wettlauf der Populisten nicht beteiligen", sagt Edler im Gespräch mit WELT. Abgesehen von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer halte sich seine Partei dabei zurück, mit negativen Emotionen gegenüber gesellschaftlichen Gruppen Stimmung zu machen. Edler: „Unter dem Druck der internationalen Entwicklung sahen sich die Grünen gezwungen, mit ihrem alten Tabu, ausländische Mächte zu kritisieren, zu brechen."

Die Deutlichkeit, mit der sie heute beispielsweise Erdogans Marsch in den totalen Führerstaat anprangern, habe ihnen neue Glaubwürdigkeit beschert. „Fundis und Realos wirken demgegenüber wie die blinden Hühner von einst, und alte ideologische Gegensätze schwinden. Wenn Cem Özdemir und Claudia Roth ins gleiche Horn tuten, ist das für einen Parteiveteranen wie mich erfreulich", betont Edler und fügt hinzu: „Aber die Fehler der Vergangenheit rächen sich."

So habe „das jahrelange Zaudern bei der Erörterung und Bewertung des islamistischen Extremismus und Terrorismus" den Grünen ein schlechtes Image beschert. Sie gelten nach wie vor als unsichere Kantonisten - „und zwar ausgerechnet in Kreisen, die sich für Menschenrechte, Frauenemanzipation und gegen religiösen Fundamentalismus engagieren".

Überall dort spürt Edler eine kühle, von Enttäuschung geprägte Distanz. Von der Frauenpartei Bündnis 90/Die Grünen erwartet er eine klarere Haltung gegenüber einem despotischen Patriarchat. „Aber bundesweit gibt es keinen grünen Namen in Präventionskreisen, der für eine solche Parteinahme steht", sagt der 68-Jährige.

Edler will sich von Partei abgrenzen

Geboren im Oldenburger Land, stammt Edler aus einer „meckerfreudigen" Familie. So hat er seine politische Identität stets mit dem Äußern von Kritik verbunden, vor allem parteiintern. In Hamburg hat der Pädagoge die Grünen mitaufgebaut, in der Folge im Landesverband und der Bürgerschaft gestritten und sich schließlich selbst von der Last der Ämter befreit.

Geblieben ist die politische Ich-AG Edler, Bildungsexperte und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik - mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus, Islamismus, Schuldemokratie, Antidiskriminierung. Als Edler den Grünen bereits vor zwei Jahren „einen blinden Fleck beim Islamismus" attestierte, warf ihm Parteikollege Till Steffen, Hamburgs Justizsenator, eine eingeschränkte Sichtweise vor.

Für Edler indes hat sich nichts geändert. „Ich selber muss mich von meiner Partei abgrenzen", sagt der 68-Jährige heute. Er findet es schrecklich, dass ausgerechnet die Grünen in Berlin - in der Auseinandersetzung um das Neutralitätsgesetz - auf der falschen Seite stehen und die Konfessionalisierungsstrategie des radikal-islamischen Lagers flankieren. Das jedoch sei völlig naiv. Denn es geht seiner Ansicht nach nicht um unschuldige individuelle Erweckungserlebnisse. Edler: „Es geht um das exklusive Wir, um das Hineintragen von sichtbarer religiöser Differenz in Kita, Schule, Universität und andere öffentliche Einrichtungen, in denen jedoch religiöse Neutralität Bedingung für das friedliche Zusammenleben ist."

Demnach redeten seine Parteifreunde ganz viel und vorschnell von Religionsfreiheit, ohne den Artikel 4 des Grundgesetzes aufmerksam gelesen zu haben. „Sonst wäre ihnen aufgefallen, dass dort nicht die Religion geschützt wird, sondern die Geistesfreiheit des Individuums - und dabei auch dessen Freiheit, ohne Religion zu leben", erklärt der frühere Landeschef der Grünen.

Es gibt eine tiefe grüne Scheu, problematischen Minderheiten die Meinung zu sagen.

Folglich müsste sich seine Partei „mit der konfrontativen Religionsbekundung, die ja keine Glaubenspraxis, sondern eine politische Aktion ist, auseinandersetzen". „Aber hierzu sind die Grünen zu feige", glaubt Edler und begründet: „Denn sie müssten den Mut aufbringen, sich in der Einwanderungsgesellschaft kritisch mit einem Milieu auseinanderzusetzen, das die Grundrechte missbraucht und die demokratische Gesellschaft verachtet."

Sein Fazit: „Was sie in der Außenpolitik inzwischen schaffen, das leisten sie in der Gesellschaftspolitik noch lange nicht. Es gibt eine tiefe grüne Scheu, problematischen Minderheiten die Meinung zu sagen, egal, was diese Minderheiten tun und was sie denken." Hierbei schleppe sich alter ideologischer Ballast aus Gründungszeiten fort. Denn als die Partei noch in Latzhose und Wollsocken herumlief, sei sie Staatskritikerin und Gegnerin der Mehrheitsgesellschaft sowie Schutzpatronin selbst der sonderbarsten Minderheiten gewesen.

Inzwischen müssten sich die Grünen in einer politischen Umgebung bewähren, „in der das Böse aus der Gesellschaft von unten kommt - ob nun aus völkischen oder aus fundamentalistischen Milieus". Das gehe „nicht ohne einen unzweideutigen Verfassungspatriotismus, also ein klares Bekenntnis zum bundesrepublikanischen Rechtsstaat", sagt Edler. Der neuen Grünen-Spitze Annalena Baerbock und Robert Habeck wünscht er, dass sie diesen gordischen Knoten durchschlägt.

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