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Todestag: Worum es in Helmut Schmidts Freitagsrunde heute ginge - WELT

Seine Gäste schätzten das kühle Bier, die Hausmannskost und vor allem die anregenden Gespräche mit dem Altkanzler bei den Freitagstreffen im Wohnhaus der Schmidts. Fünf Wegbegleiter erinnern sich.

Wenn Helmut Schmidt in sein Haus im Hamburger Stadtteil Langenhorn einlud, kamen sie alle. Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler, Theologen. Drei Jahrzehnte lang pilgerten die Größen ihres Fachs im Winter an jedem zweiten Freitag im Monat zu dem Anwesen am Neubergerweg.

Die Freitagsgesellschaft nannten Helmut und Loki Schmidt jene 1985 initiierte Runde, die zur Institution wurde und stets dem gleichen Ritual folgte: Gegen 20 Uhr servierte zunächst der Leibwächter des Ehepaares, Ernst-Otto „Otti" Heuer, in der „Kneipe" die Getränke. Eine halbe Stunde später bat Loki dann zur Hausmannskost an den Esstisch, ehe sich die Mitglieder schließlich in der Bibliothek im Stuhlkreis versammelten und über den Zustand und die Zukunft unserer Gesellschaft diskutierten. Manchmal bis nach Mitternacht. Vertraut und diskret.

Anlässlich des ersten Todestages von Altkanzler Helmut Schmidt am 10. November 2016 erinnern sich fünf der 25 Mitglieder noch einmal an die Freitagsgesellschaft. Über welches Thema würde sich der illustre Kreis, wenn es ihn noch gäbe, wohl heute austauschen. Und welches Fazit würde der Hausherr selbst ziehen.

Manfred Lahnstein (78), SPD-Politiker und Unternehmensberater:

„Wie würde ich mich auf die Freitagsgesellschaft freuen! Am Neubergerweg würde der Abend an der gemütlichen Hausbar beginnen, bis uns eine alte, quäkende Autohupe an den großen Tisch nebenan rufen würde. Ich stelle mir vor, es sei Januar. Denn dann würde es Grünkohl mit allen Zutaten geben und ein frisch gezapftes Bier dazu. Dann ab in die Wohnzimmerrunde. Heute Abend würden der Brexit und seine Folgen auf der Tagesordnung stehen, dazu noch Ceta und TTIP. Wir würden das gestiegene Gewicht Deutschlands und damit seine größere Verantwortung in Europa beleuchten. „Gerade jetzt muss es um ein ‚europäisches Deutschland' und nicht um ein ‚deutsches Europa' gehen", würden wir wohl schlussfolgern. Und Helmut Schmidt würde uns wieder einmal daran erinnern, dass bald nur noch jeder fünfzehnte Mensch auf der Welt ein Europäer sein wird. ‚Haben wir Gartenzwerge denn gar nichts kapiert?', könnte seine rhetorische Frage lauten. Die Sorge um die Zukunft der Europäischen Union, der Ärger über Kleinkariertes aus Brüssel, London oder Berlin - das hat ihn zuletzt immer mehr umgetrieben. Gegen Mitternacht würde er uns dann entlassen. Freunde unter sich und ein paar neue Gedanken dazu - was für ein Start in das Wochenende!"

Heinz Spielmann (85), Kunsthistoriker und Museumskurator:

„Dass die Freitagsgesellschaft dank Helmut Schmidts kontinuierlichem Engagement mehr als ein Vierteljahrhundert bestand, erscheint angesichts unserer ständigen Wechselseligkeit als bemerkenswert. Es gab wohl kaum ein relevantes Thema aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, das in der langen Zeit nicht professionell und kritisch zur Sprache gekommen wäre - kritisch nicht selten gegenüber dem Zeitgeist. Es galt als selbstverständlich, dass die oft freimütigen Äußerungen nicht nach außen getragen wurden.

Helmut Schmidt wünschte sich, dass andere Ähnliches initiieren würden, als eine Möglichkeit, im offenen Informations- und Meinungsaustausch ein besseres gegenseitiges Verständnis zu fördern. Im Laufe der Jahre stand die Gefährdung der Zukunft mehr und mehr im Mittelpunkt der Diskussion - in skeptischer Sorge um künftige Entwicklungen verstand sich Helmut Schmidt als konservativ. In unserer letzten Sitzung, die der Flüchtlingsproblematik gegolten hatte, sagte er mir zum Abschied, er sei froh, dass er diese Zukunft nicht mehr erleben müsse."

Hans-Jochen Jaschke (75), emeritierter Weihbischof:

„Wir würden heute in der Freitagsgesellschaft besorgt über Europa diskutieren. Und Helmut Schmidt würde einen der großen Europäer zu sich nach Langenhorn bitten. Vielleicht Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker. Er würde ihnen die Frage stellen, wie Europa wieder zu Verstand kommen könne. Und ich sage dazu ganz entschieden, dass Europa nicht an Kleinstaaterei und Egoismen zugrunde gehen darf.

Ich bin selbst ein Flüchtlingskind, bin 1945 im Alter von vier Jahren mit meiner Mutter aus Schlesien vertrieben worden und in Niedersachsen angekommen. Eine Heimat in dem Sinne habe ich als Kind nicht erlebt. Ich bin in die europäische Perspektive hineingewachsen. Europa war für mich stets eine Befreiung und eine Garantie dafür, dass Völker friedlich miteinander leben. Helmut Schmidt und sein politischer Freund, der französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing, wussten, dass Europa unsere gemeinsame Zukunft ist. Aber Schmidt würde auch sagen, dass Brüssel neu geerdet werden muss, dass das EU-Parlament echte Kompetenzen und mehr Gewicht braucht. Und er würde wohl sagen, dass wir vorsichtig sein müssen, damit nicht der Eindruck einer Dominanz von einzelnen Ländern entsteht. Das tut Europa nicht gut, weil dann alte Ängste vor den Deutschen wieder hervorkämen.

In der Freitagsgesellschaft habe ich Helmut Schmidt aber auch von seiner empfindsamen Seite kennengelernt, wenn er sich etwa Siegfried Lenz in so großer Herzlichkeit zuwandte. Helmut Schmidt war kein kirchenfrommer, aber ein herzensfrommer Mensch, der mir einmal sagte: ‚Lieber Jaschke, eines nehme ich dem lieben Gott übel, dass ich nicht mehr die Musik hören kann, die ich auf dem Flügel spiele.' Und seine Frau, die Loki, diese kluge Frau, hat geantwortet, dass es sich doch aber ganz manierlich anhöre."

Hauke Trinks (73), Physiker, Tier- und Naturbeobachter:

„Es ist jetzt fast 20 Jahre her, da spazierte Helmut Schmidt einfach so und unaufgefordert in mein Büro an der TU Hamburg-Harburg, deren Präsident ich damals war. Das war sehr überraschend für mich. Eine Stunde lang hat er sich mit mir unterhalten, über die Entwicklung in der Gesellschaft, über Weltpolitik und Wirtschaftsfragen. Ich war beeindruckt. Von da an wurde ich in die Freitagsgesellschaft aufgenommen.

Ein großes Thema in dieser Runde wäre heute mit Sicherheit die Auseinandersetzung in Syrien und der gesamte Nahost-Konflikt. Herr Schmidt hätte auch dazu eine sehr klare Meinung gehabt. Er hätte, wie es stets seine Art war, geradeheraus diskutiert, mit gesundem Menschenverstand, fern von politischer Korrektheit und fern von der heute weit verbreiteten Schwarz-Weiß-Denke. Wenn ich allein lese, wie einseitig über die Weltmächte USA und Russland berichtet wird, dass die Amerikaner stets alles richtig machen, wohingegen Putin immer der Bösewicht ist. Auch daran hätte Herr Schmidt Kritik geübt. Er war ein Meister darin, scharfsinnige Fragen zu stellen, die exakt auf den schwachen Punkt einer Debatte zielten. Unglaublich, was er für ein Gedächtnis hatte und wie er bis zuletzt alles durchblickt hat, selbst wenn er minutenlang schwieg. Alle waren beeindruckt."

Justus Frantz (72), Pianist und Dirigent:

„Ich war mit Sicherheit nicht das wichtigste Mitglied der Freitagsgesellschaft, als Musiker eher der bunte Hund, zwischen all den Politikern, Unternehmern und Wissenschaftlern. Aber ich war von Anfang an dabei und in all den Jahren so oft ich konnte. Denn Helmut Schmidt war mein Freund. Wir kannten uns über 50 Jahre. Wir haben miteinander Schach gespielt und musiziert. Wir sind zusammen verreist und spazieren gegangen. Und in der Freitagsgesellschaft bewegte Helmut Schmidt zum Schluss insbesondere der Frieden in Europa.

Er sagte, dass diese jungen Leute nicht wüssten, was Krieg sei, weil sie ihn nicht erlebt hätten. Diese Möglichkeit, Entspannung als wichtigstes Ziel anzusehen, hat ihn umgetrieben. Und er hat sein Verhältnis zu Russland sehr verändert. Er war zwar kein ausgewiesener Russland-Freund. Aber er erkannte, dass die großen Probleme Europas und der Welt ohne die Mächte China und Russland nicht lösbar sind. Es wird Fragen von Menschenrechten geben, die viel gravierender sind, wenn wir Probleme wie Klimaschutz, Umwelt und nukleare Abrüstung nicht lösen. Und auch ich habe immer versucht, etwas für Frieden und Respekt vor anderen zu tun. Das sehe ich als meine Lebensaufgabe an, auch in der Musik kann man das machen. Jede Diskussion in der Freitagsgesellschaft endete übrigens damit, dass auch Helmut Schmidt seine Gedanken äußerte. Alle hörten zu. Und was soll ich sagen, seine Worte waren stets die intelligentesten, gebildetsten und souveränsten."

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