Der psychiatrische Gutachter sitzt in der Mitte des Schwurgerichtssaals im Kieler Landgericht, ein dicker Aktenordner liegt vor ihm auf den Tisch. Sein Bericht könnte Aufschluss über die Schuldfähigkeit des angeklagten Steuerberaters Olaf Lauenroth geben. Die Gerichtsschreiberin tippt die ersten Zeilen, Verteidiger, Staatsanwalt und Nebenklägerin warten auf den Beginn des vierten Verhandlungstags im Prozess um den Mord an einen Finanzamt-Mitarbeiter. Der Blick der rund 50 Zuhörer geht immer wieder zur Tür. Wo bleibt der Mann im Rollstuhl? Getuschel zwischen den Anwälten, der Vorsitzende Richter Jörg Brommann verlässt den Saal, bespricht sich im Gang mit den Juristen, kommt nach ein paar Minuten wieder. Dann klärt er die Situation auf: Der Angeklagte kann nicht kommen. Er befindet sich in der Notaufnahme im Lübecker Universitätsklinikum.
Für gewöhnlich wird im Krankheitsfall des Angeklagten die Verhandlung vertagt, doch bei Lauenroth lassen die ungewöhnlichen Umstände Zweifel am tatsächlichen Gesundheitszustand aufkommen. Seit Dienstag habe der 55-jährige Fockbeker, der am 1. September einen leitenden Finanzamt-Mitarbeiter erschossen haben soll, über Schmerzen geklagt, berichtet der Richter. Daher veranlasste er eine zusätzliche Untersuchung, um die Verhandlungsfähigkeit von Lauenroth festzustellen. Während der Untersuchung soll der ehemalige Schauspieler der Niederdeutschen Bühne immer wieder „laute, diffuse Schmerzensschreie" von sich gegeben, auf die Fragen der Ärztin aber vergleichsweise normal geantwortet haben, so Brommann. Die Ärztin kam zu dem Ergebnis, dass es aus medizinischer Sicht keinen Grund gebe, warum er nicht vor Gericht erscheinen sollte.
Am Morgen der Verhandlung dann aber das: Als ein Justizvollzugsbeamter das Frühstück in die Zelle im Lübecker Gefängnis bringen wollte, fand er Lauenroth auf dem Boden liegend, vor Schmerzen wimmernd, berichtet der Richter weiter. Der Rollstuhl lag umgekippt daneben. Sofort wurde er mit einem Rettungswagen in das Universitätsklinikum gebracht.
„Wir wissen, dass er an Morbus Bechterew erkrankt ist", sagt Brommann. Seitdem er elf Jahre alt ist, leidet Lauenroth unter dieser chronisch verlaufenden rheumatischen Krankheit, die sich nach Angaben der Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew vor allem an der Wirbelsäule auswirkt. Trotz dieses Krankheitsbilds bringt der Zwischenfall die Richter ins Grübeln. Denn Lauenroth soll nach Angaben des JVA-Beamten auf einer Wolldecke auf dem Boden gelegen haben, seinen Kopf bettete er auf einen Stapel Kleidung. Sieht so jemand aus, der gerade gestürzt ist? Diese Frage müssen sich die Richter stellen. Die Verhandlung wird zunächst für eine Stunde unterbrochen, um den Befund aus dem Krankenhaus abzuwarten. Dieser hätte Aufschluss über einen möglichen vorgetäuschten Sturz geben können. Erst mit dem Befund sollte entschieden werden, ob gegebenenfalls in Abwesenheit des Angeklagten weiter verhandelt werden kann.
Um 10.30 Uhr füllt sich der Saal erneut. Mit Spannung erwarten die Gäste den Bericht des Gutachters und die Plädoyers. Doch die Prozessbeteiligten verlassen erneut den Raum. Im Flur zücken sie ihre Handys, Brommann hält einen Kalender in der Hand. Während der Gutachter im Saal seine E-Mails liest, steht die Gerichtsschreiberin langsam auf, geht hinüber zum Fenster und blickt nach draußen. An diesem Tag gibt es für sie nicht mehr viel zu schreiben. Nur noch das Datum, auf das die Verhandlung verschoben wird: Erst am Donnerstag, 2. April, kommt der Gutachter zu Wort. Denn ohne abschließenden Befund sehen sich die Richter nicht in der Lage zu beurteilen, ob auch ohne den Angeklagten verhandelt werden kann. Das Urteil soll am 7. April um 11 Uhr verkündet werden.
von Jana Walther erstellt am 27.Mrz.2015 | 05:46 Uhr