Berlin. Der Landesverfassungsgericht hat eine historisch einmalige Entscheidung getroffen: Wegen Pannen müssen die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) in Berlin komplett wiederholt werden. Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der Freien Universität erforscht Wahlen. Mit der Morgenpost spricht er über die Auswirkungen der Wahlwiederholung auf Wahlverhalten, Legitimität und das Vertrauen in demokratische Prozesse.
Der Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass die Wahl in ganz Berlin wiederholt werden muss. Kann eine Wahl überhaupt eins zu eins wiederholt werden?
Prof. Dr. Thorsten Faas: Das „eins zu eins“ ist der entscheidende Punkt. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte die Fehler beheben und alles andere konstant lassen. Das war eine Abwägungsentscheidung und das Gericht hat sich in sehr deutlicher Weise für die Korrektur der Fehler entschieden und den Bestandsschutz der Wahl geringer gewichtet. Das war nach der ersten Anhörung so zu erwarten.
Wie Sie sagen, die Zeiten haben sich seit September geändert. Geopolitisch mit dem Krieg in der Ukraine, aber auch innenpolitisch. Was bedeutet das für diese Wahl?
Die Wahl im kommenden Jahr wird anders sein. Das hat mit politischen Ereignissen zu tun, mit Stärkeverhältnissen von Parteien. Außerdem kann man davon ausgehen, dass die Wahlbeteiligung geringer sein wird, da der gleichzeitige Wahltag mit der Bundestagswahl in einem Maße mobilisiert hat, wie es bei einer Abgeordnetenhauswahl undenkbar wäre.
Ist das eine Verzerrung der Wahl?
Die Frage ist, welche Wahl wäre weniger verzerrt? Das Argument der Wahlfehler in Verbindung mit der Mandatsrelevanz heißt, die Wahl 2021 wäre anders ausgegangen, wenn sie korrekt stattgefunden hätte. Jetzt haben wir die Situation, dass sich das Wahlergebnis 2023 anders ausgestalten wird als 2021, weil die Beteiligung und die Themen anders sind, weil Kandidaten ihr Image gewandelt haben.
Könnte diese Wahlwiederholung Auswirkungen auch auf zukünftige Wahlen haben?
Sicherlich. Das Spannende an der Entscheidung ist, dass die Gewichtung, die das Gericht vorgenommen hat, eine ganz andere ist, als es Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, früher an anderen Stellen getan haben. Da hatte der Bestandsschutz Vorrang, also die Annahme, dass Wahlen in einer Demokratie essenziell und absolutes Fundament sind und dass man an diesem Fundament nur so selten und so gering wie möglich rüttelt. Das hat das Gericht in Berlin anders ausgelegt. Sie sagen, die Wahl war insgesamt so fehlerbeladen, dass wir einfach alles für ungültig erklären.
Was folgt daraus?
Das schafft einen Präzedenzfall und öffnet ein Fenster dahingehend, dass man auch in Zukunft wird sagen können: „Wer weiß, wenn hier vielleicht etwas anders gewesen wäre, wie wäre die Wahl dann ausgegangen? Hier haben Leute eine halbe Stunde gewartet, da gab es kurzfristig Probleme...“ Der Präzedenzfall ermöglicht es zu argumentieren, dass diese Dinge viel stärker gewichtet werden müssten, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Das ist ein Problem, gerade in einer Zeit, in der es populistische Kräfte gibt, die Wahlen in ihrer Funktionsfähigkeit ohnehin systematisch in Frage stellen, und die jetzt immer sehr gerne auf dieses Berliner Beispiel verweisen werden.
Nehmen die demokratischen Institutionen also Schaden?
Die Prüfung der Bundestagswahl ist nach einem ganz anderen Prozess abgelaufen und zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen als die Prüfung der Abgeordnetenhaus- und BVV-Wahl. Menschen könnte aber denken: „Irgendwie ist das aber doch der gleiche Wahltag mit den gleichen Problemen, wie kann das sein? Kann man der Wahl und der Wahlprüfung vertrauen?“ Das ist alles ohne Zweifel sehr komplex. Aber aus der Komplexität ergeben sich möglicherweise auch solche Muster, bei denen man sich Verluste in das Vertrauen in die Institutionen sehr leicht vorstellen kann. Das kann man positiv formulieren: Man sollte sehr genau erforschen, was im Februar dann passiert und wie die Wahlwiederholung wahrgenommen wird.
Wir haben nun eine Regierung, die durch eine Wahl legitimiert ist, welche jetzt für ungültig erklärt wurde. Wie ist das zu bewerten, auch im Hinblick auf die Zeit bis zur Wiederholungswahl?
Dass der Eindruck entsteht, dass ein auf nicht korrektem Weg gewähltes Parlament und daraus abgeleitet der Senat Entscheidungen getroffen hat, ist nicht schön. Aber das Gericht hat klar gemacht, hier gilt das Prinzip der Kontinuität: Die Entscheidungen gelten. Sicherheit ist gerade in diesen turbulenten Zeiten wichtig. Zumindest bis heute ist es vollkommen legitim, dass diese Entscheidungen getroffen wurden und Bestand haben. Mit dem heutigen Tag und dem Urteil ändert sich das. Jetzt haben wir eher eine geschäftsführende Regierung, die auf Bestätigung warten muss. Es ist Zurückhaltung angesagt, fundamentale Richtungsentscheidungen wären jetzt nicht mehr angemessen.
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