Als seine Frau stirbt, hinterlässt sie Rudolf Lausberg 5000 Dekoschweine. Behalten will er sie nicht, Loslassen tut trotzdem weh.
Wer zum ersten Mal von den Lausbergs und ihren Dekoschweinchen hört, könnte denken, das hier sei eine Geschichte über das Anhäufen. Von Dingen, die man nicht so richtig braucht. Und das stimmt auch, aber es ist noch viel mehr eine Geschichte über das Loslassen. Und es ist auch eine über die Liebe.
Der Held der Geschichte, Rudolf Lausberg, möchte seit einigen Monaten die Schweinchen-Sammlung seiner verstorbenen Frau loswerden. Um die 5000 Exemplare seien es, sagt er, aber wer ihn in seiner sehr kleinen, sehr vollgestopften Wohnung in Köln-Vingst besucht, der merkt: Es sind vermutlich noch viel mehr. Die Schweinchen sind überall in der Wohnung, im Schlafzimmer, Gästezimmer, Wohnzimmer, in der Küche, im Bad. 63 Quadratmeter Dekosauen und Dekoeber. Sie grinsen aus Bildern, reihen sich hundertfach in Regalbrettern, leuchten, wackeln, schlafen, sitzen, trompeten, kochen, kopulieren.
Lausberg ist 85 Jahre alt, das weiße Haar lichtet sich zu einem Ring auf seinem Kopf, er sagt mit Stolz, sie seien eine fröhliche Familie. Lausberg führt durch seine Wohnung. Hannelores Seite des Bettes ist gerichtet, als würde sie sich später dort hinlegen, sie lächelt aus dem Hochzeitsfoto auf dem Wohnzimmertisch.
Hannelores Schweinchen bevölkern die ganze Wohnung, fast kein Zentimeter ohne sie: Sie bilden Kuckucksuhren, Kaffeekannen und Hausschuhe. Sie blicken von Bierdeckeln und aus Bilderbüchern. Auf Plaketten stehen Sätze wie "Mit Arbeit versaut man sich den ganzen Tag" oder "Saustall des Jahres".
Solche Gegenstände nennt der Soziologe Felix Keller aus St. Gallen "Batterien von Geschichten". Sie seien aufgeladen mit Erinnerungen, gäben Halt und Stabilität, meint er. Dinge könnten die Eigenschaft haben, Menschen zu vertreten. Das Feuerzeug, mit dem der Großvater seine Pfeife angesteckt hat; die Schürze, mit der er die Gartenarbeit verrichtete. Man spürt einen geliebten Menschen darin. "Wenn wir den Gegenstand weggeben, fühlt es sich an, als würden wir einen Teil der gemeinsamen Geschichte wegschmeißen", sagt Keller. Ein zweiter schmerzhafter Abschied.
Doch was tun mit all den Dingen, wenn die Person, zu der sie gehörten, nicht mehr da ist? Loslassen ist schwer, alles zu behalten unmöglich. Nicht nur Rudolf Lausberg geht es so. Auch ohne Schweinesammlung steht irgendwann wohl jeder vor der Herausforderung, über die Hinterlassenschaften eines geliebten Menschen entscheiden zu müssen. Rund 10.000 Dinge besitze jeder Deutsche, ist immer wieder zu lesen. Quelle soll das Statistische Bundesamt sein, doch das streitet ab, die Daten je erhoben zu haben. Es gibt nur Hochrechnungen und hartnäckige Mythen. Wer weiß schon, wie viele Dinge er wirklich besitzt?
Das große Sammeln ist ungefähr so alt wie das deutsche Wirtschaftswunder. Der Soziologe Keller sagt, es seien vor allem die Wohnungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die jetzt aufgelöst würden. Haushalte von Menschen, die mit Knappheit und Verlusten aufwuchsen und die sich ein Gefühl von Sicherheit mit Gegenständen kauften. Halt und Stabilität finden in der Ordnung der Dinge. Wer diese Wohnungen leer räumen muss, ist daher oft mit einer extremen, kaum zu bewältigenden Fülle von Dingen konfrontiert.
So wie Rudolf Lausberg. Er sitzt mit seinen zwei Söhnen im Wohnzimmer, Thomas auf dem Sessel, Christian auf dem Sofa, dort, wo Hannelore in ihren letzten zehn Lebensjahren immer lag. Halbliterdosen Kölsch stehen vor den Männern, der Fernseher ist eingeschaltet, manchmal geht Christian raus auf den Balkon, raucht.
Hannelore Lausberg sammelte die Dekoschweinchen ihr Leben lang, oder besser, seit sie Hannelore Lausberg hieß und nicht mehr Hannelore Witthuhn, seit sie also ihren Rudolf hatte und der seine Hannelore. 24 Jahre alt war sie, 27 Jahre alt war er, da heirateten sie, endlich, ein Jahr hatte Rudolf Lausberg warten müssen, denn er wollte erst eine Wohnung finden für Hannelore und für sich. Kennengelernt hatten sie sich in der Gaststätte in Müngersdorf, in der Hannelore kellnerte; wenn er mit seinen Kumpeln Skat spielte, dann stellte sie sich hinter ihn und verriet sein Blatt. Eine wunderschöne Frau, sagt Lausberg. Wunderwunderschön. Und vormachen konnte ihr niemand was.
Es war in einem ihrer ersten gemeinsamen Sommer als Ehepaar Lausberg, da spazierten die beiden durch die Kölner Innenstadt. Rudolf Lausberg erinnert sich: ein Samstag, Schaufenstergucken, Schildergasse, Arm in Arm, verliebt sowieso. Plötzlich blieb Hannelore stehen, deutete auf etwas hinter der Scheibe eines Kaufhauses: Ein weißes Schwein aus Porzellan, unterarmlang, naturgetreu stand es da und kostete 100 Mark. "Das will ich haben", sagte sie. 100 Mark, sagt Lausberg heute, das war viel Geld; allein für die Wohnung zahlte er damals im Monat 140. 100 Mark, nun ja, also gut. Er kaufte das Schwein.
Er kaufte noch viele weitere. Weshalb Hannelore Lausberg gesammelt hat, das kann man sie nicht mehr fragen. Ganz genau weiß Rudolf Lausberg es auch nicht. Was er weiß: "Ich konnte losgehen und mir ein Lächeln holen, mit jedem Schweinchen eines." Was Lausberg so umschreibt, nennen Psychologen Konditionierung: Bestimmte Dinge zu kaufen oder zu besitzen ist mit schönen Gefühlen verknüpft. Jedes Schwein ein Lächeln – das wird irgendwann zu einem Ritual, das glücklich macht. Und Rituale struk-turieren das Leben, so wie das der Lausbergs: Beinahe jedes Wochenende suchten sie Schweinchen auf Trödelmärkten. Oder sie gingen ins Wildgehege, um die echten Tiere anzuschauen.
Hannelore Lausberg wuchs auf in Berlinchen, einem Ort in Westpommern, der heute Barlinek heißt und in Polen liegt. Ihre Kindheit war hart, ihr Sohn Christian sagt: nur Krieg und Tod. Die einzig schöne Erinnerung sei ein Ferkel gewesen, das Hannelore großziehen durfte, da war sie sechs oder sieben Jahre alt. Wenn sie aus der Schule kam, dann wartete ihr Schweinchen schon auf sie, folgte ihr überallhin. Sein Gesicht habe so ausgeschaut, als würde es grinsen. So erzählt es Christian.
Was mit dem Schwein geschah, als die Familie bei Kriegsende nach Westen fliehen musste, weiß Lausberg nicht. Über die Zeit sprach Hannelore selten, bei der Flucht übers Eis verlor sie eines ihrer Geschwister. Erst als sie das Porzellanschwein in der Schildergasse entdeckte, erinnerte sie sich wieder, vor allem an das Schöne aus ihrer Kindheit. Jedes Mal, wenn Hannelore ein Schwein anguckte, kam die gute Erinnerung zurück.
Wenn Lausberg ein Jahr nach ihrem Tod über Hannelore spricht, treten oft Tränen in seine Augen, er greift dann nach etwas wie der Fernbedienung, um sich zu sammeln, bevor er weiterspricht. Er will ihre Dekoschweinchen nicht einfach loswerden. Er will vielmehr dafür sorgen, dass sie in gute Hände gelangen, nicht weggeschmissen werden, bevor seine Zeit gekommen ist. Er führt die Sammlung konsequent weiter, indem er sie auflöst. So erhält er ihren Wert. Mit jedem Stück, das er weggibt, gibt er ein Stück Hannelore weg. Damit ist es auch ein Trauerprozess, ein aktives Abschiednehmen. Ein Begreifen, dass sie nicht mehr da ist, mit jedem Schweinchen, das er weggibt, sagt er.
Der Wert von Dingen steckt nicht in den Dingen selbst. Sondern der Mensch ist es, der ihnen ihren Wert erst gibt. So hat es der Abfallforscher Michael Thompson 1979 in seiner "Rubbish Theory", der Müll-Theorie, aufgeschrieben. Umgekehrt sei auch kein Gegenstand an sich wertlos. Erst durch das Wegwerfen nehmen wir den Dingen ihren Wert, schreibt Thompson. Wenn wir es sind, die wegwerfen, fragen wir uns deshalb womöglich: Hätte es der Person zu Lebzeiten wehgetan, wären ihre Habseligkeiten aussortiert worden? Dieser Gedanke kann wehtun.
Daher ist es manchmal wichtig, dass einer wie Daniel Lewinski kommt, wenn eine Wohnung aufgelöst werden muss. Ein Entrümpler. Lewinski ist 28 Jahre alt, einer, dem man ansieht, dass er einen Kühlschrank notfalls auch allein zwei Stockwerke nach unten tragen kann. Gemeinsam mit seinen Jungs, so nennt er sie, rückt Lewinski zu Wohnungen an, wenn die Hinterbliebenen selbst nicht mehr können.
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Die wenigsten riefen sofort an, sagt er. Meistens versuchten die Leute erst, selbst zu sortieren, zu behalten, wegzuwerfen, aber merkten dann, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen sind. Weil die Erinnerungen zu viel wiegen. Und die Schrankwand aus Kirschholz auch. Für Lewinski wiegen weder Schrankwand noch Erinnerungen zu viel. Er und seine Jungs brechen Möbel auseinander und füllen Fotos in blaue Plastiksäcke ohne den letzten Blick, den sie darauf werfen würden, wenn es ihre eigene Großmutter wäre. Wer Lewinski bei seiner Arbeit begleitet, kann beobachten, wie innerhalb eines Tages zweieinhalb Zimmer Leben zu 3,7 Tonnen Abfall werden. Auf eine derart brachiale Weise eine Wohnung zu entleben, das könnte niemand, der in ihr etwas Persönliches sieht.
Sammlungen müsse er oft entsorgen, sagt Lewinski. "Man glaubt gar nicht, was die Leute alles horten." Die Hinterbliebenen sagten meistens "Bitte einfach weg damit". Genau das sei es, was er vermeiden wolle, sagt Rudolf Lausberg. Dass einer wie Lewinski durch Hannelores Sammlung gehe und sie zu Müll mache.
Hannelore starb mit 81 Jahren. Das Vermissen sei schlimm, sagt Lausberg. Vor allem im Bett ohne sie zu liegen. Lausberg will nur wenige Stücke behalten, die Hannelore besonders am Herzen lagen: die Kaffeekanne in Form von Miss Piggy; ein schwarzes Strohschwein, 80 Zentimeter lang, das letzte große Schwein, das Hannelore kaufte. Den Rest will er loswerden.
Dazu nutzt Rudolf Lausberg seine neue Berühmtheit. Seit im November vergangenen Jahres erst Lokalzeitungen, dann die Deutsche Presse-Agentur, schließlich Reporter und Fotografen aus dem ganzen Land zu Besuch waren, melden sich Sammler bei ihm. Genau, wie Lausberg es geplant hat. Ihm liege nichts daran, bekannt zu sein, sagt Lausberg, aber damit Hannelores Sammlung in gute Hände kommt, "dafür ist die Aufmerksamkeit schon gut". Immer wenn wieder ein Journalist Lausberg sprechen möchte, kommt mindestens einer seiner Söhne mit dazu. Man wisse ja nie, wer da in die Wohnung komme.
Drei Sammler waren schon da und haben mitgenommen, was sie haben wollten. Ein Metzger und seine Frau aus Nürnberg haben sogar Wurst als Gegenleistung mitgebracht. RTL rückte mit Kamerateam und einer Aktion an: In der Kölner Fußgängerzone verkauften Moderatoren Schweinchen, den Erlös von 1000 Euro gaben sie an die Flutopfer ins Ahrtal. Hannelore hätte das gefallen, sagt Lausberg. Er will noch weitere Plüschtiere verkaufen und auch dieses Geld ins Ahrtal spenden. Er sammelt es, wo sonst, in einem Sparschwein.
Zu billig weggeben möchte Lausberg die Tiere nicht. Als ein Museum ihm 500 Euro für die ganze Sammlung bot, lehnte er ab. Zu wenig, sagt Lausberg, er empfand es beinah als Frechheit. Eine Gutachterin hatte ihm bescheinigt, die Sammlung sei 10.000 Euro wert, möglicherweise sogar mehr.
Lausberg nimmt seine Aufgabe ernst. Viele Menschen, die Wohnungen auflösen, tun das. Dabei trägt man eigentlich keine Verantwortung für die Dinge, ist kein Archivar der Sachen der Liebsten, sagt Aufräum-Expertin Gunda Borgeest. Behalten sollte man nur etwas, das an die Person erinnert. "Wir tun das für uns, für unsere Erinnerung", sagt Borgeest, "nicht für den verstorbenen Menschen." Borgeest empfiehlt, dass jeder sein Leben selbst sortiert, bevor man stirbt. Zumindest ins Testament schreibt, was mit dem Nachlass geschehen soll – genau nach dem Prinzip, wie Patientenverfügungen funktionieren.
Lausberg kann seine Frau nicht zurückbekommen. Er könnte ihre Schweinchen behalten, aber sie wegzugeben ist womöglich das Beste, was Lausberg gerade tun kann, um sich seiner Hannelore nahe zu fühlen und ihr Andenken zu wahren. Loslassen, um Nähe zu spüren. Und auch, um weiterzumachen.
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