„Tafeln“ geben armen Menschen Lebensmittel. Doch in Essen dürfen sich keine Ausländer mehr neu anmelden. Reportage von einem Ort, der die Nation spaltet.
Es ist kurz vor neun Uhr an einem Mittwochmorgen, Minus fünf Grad sorgen für eisige Kälte. Am Essener Wasserturm herrscht schon reger Betrieb. Jeden Mittwoch lässt die Essener „Tafel“ Neuanmeldungen zu – doch neuerdings nicht mehr für jeden. Aus dem Eingang des klobigen Turms kommen im Minutentakt Menschen. Normalerweise werden bis zu 50 Leute jede Woche angenommen. Heute müssen ein Dutzend Wartende wieder gehen. Kein deutscher Pass? Keine Kundenkarte!
Tafel in Essen: „Wollen auch, dass die deutschen Oma weiter zu uns kommt“
Und kein Essen – auch nicht für Dadashi . „Ich bin sehr frustriert. Ich habe hier seit sechs Uhr gewartet“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Seine Mütze hat er tief ins Gesicht gezogen. Unter seinem Arm klemmt eine grüne Mappe mit Dokumenten für seinen Antrag. „Letztes Jahr hatte ich eine Berechtigungskarte“, sagt er. „Ich war immer zufrieden.“
Dadashi: Der Mann aus Iran möchte nur von hinten fotografiert werden. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
Heute wartete der 69-Jährige vergeblich. Seit sechs Uhr morgens, drei Stunden in der Kälte. Dadashi stammt aus Iran und hat einen Reiseausweis für Flüchtlinge. Ohne deutschen Pass hat er keine Chance, hier Lebensmittel zu bekommen.
Die Essener Tafel hat sich nach eigenen Angaben zu diesem Schritt entschieden, weil zuletzt drei von vier Kunden Ausländer waren. Besonders ältere Tafel-Nutzerinnen und alleinerziehende Mütter hätten sich von der Vielzahl junger, fremdsprachiger Männer abgeschreckt gefühlt, sagte der Vereinsvorsitzende Jörg Sartor der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“. „Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt.“
Was sind die Aufgaben der „Tafel“?
Diese Entscheidung wühlt Deutschland auf. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte Kritik, man könne doch keine Gruppen ausschließen. CSU-Politiker Alexander Dobrindt zeigte sich solidarisch, rief sogar den Chef der Essener Tafel Jörg Sartor an. Und Sartor selbst sagt? Sagt es so: „Der Ball ist jetzt auf einer Ebene, auf der andere mitspielen müssen. Es geht bei weitem nicht mehr nur um die Essener Tafel.“
Vor Ort bei der „Tafel“ in Essen: Wir sprechen mit einer Irakerin und einem deutschen Rentner.
Etwa 6.000 Menschen erhalten jede Woche Lebensmittel von der Tafel in Essen. In ganz Deutschland gibt es mehr als 930 solcher gemeinnütziger Tafeln. Sie sammeln Lebensmittel, die sonst im Müll landen würden, und verteilen sie dann an arme Menschen. Sogenannte Bedürftige. Fast 1,5 Millionen Menschen sind in Deutschland auf Lebensmittelspenden angewiesen, schreibt die „Tafel“ auf ihrer Internetseite.
An der Ausgabestelle in Essen erntet Sartor Zustimmung für seine Entscheidung. Applaus brandet auf, als der stämmige, mit einer roten Fleece-Jacke gekleidete Mann zu den Wartenden nach draußen kommt. Dick in Schal, Mütze und Handschuhe eingepackt, stehen die ersten Kunden an der Lebensmittelausgabe an der Hinterseite des Wasserturms. Mittwochs startet diese um 12.30 Uhr. Jedem Kunden ist eine feste Lebensmittel-Abholzeit zugeteilt.
Eine der wartenden Kunden ist die 68-jährige Inge. Hinter einer weiß-roten Absperrung hat sie ihren grünen Einkaufstrolley aufgereiht. „Ich finde das Vorgehen wirklich sehr gut“, sagt die Rentnerin. Seit drei Jahren kommt sie jede Woche zur Tafel. „In der Vergangenheit wurde ich hier schon oft geschubst. Mir wurden sogar Schläge angedroht.“ Sie hätte schon mehrmals überlegt, deshalb nicht mehr zu kommen. „Ich bin aber auf die Lebensmittel angewiesen“, sagt die Rentnerin. „Ich habe nur 380 Euro Rente.“
„Wir brauchen das Essen der Tafel genau wie Deutsche“
Auch ihre Bekannte Gabi ist unter den Wartenden. Die 53-Jährige freut sich jede Woche auf ihren „Einkauf“. Jeder „Kunde“ der Tafel zahlt pro Essensausgabe einen symbolischen Beitrag von einem Euro. Gabi erzählt: „Oft kommen die Ausländer mit ihren Kindern. Ich habe es schon erlebt das die sich Stöcke gesucht haben und damit auf andere losgegangen sind“, erzählt sie.
Davon ist heute jedoch nichts zu sehen. Niemand wirkt hier aggressiv.
Inge (l.) und Gabi: möchten nicht ihr Gesicht in den Medien sehen. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
Etwas weiter hinten steht die 35-jährige Lena. Ihre Fellkapuze hat sie weit ins Gesicht gezogen. Lena kommt aus dem Irak und hat keinen deutschen Pass. Seit etwa vier Monaten holt sie sich Lebensmittel bei der Tafel. In dieser Zeit hat sie nichts von Problemen mitbekommen.
Die neue Regel kann sie deshalb auch nicht verstehen: „Wir brauchen das Essen der Tafel genau wie Deutsche.“ Lena, die zwei Söhne hat, weiß nicht, wie es weiter gehen soll, wenn sie bald keine Lebensmittel mehr bei der Tafel bekommt.
Lebensmittel bei der Essener Tafel: Salat, Brot und Bananen
Immer mal wieder fährt ein Lieferwagen an den Wartenden vorbei. Auf der Seitenwand eines der Lkws ist ein schwarzes Graffiti mit der Aufschrift „Nazis“ gesprüht. Spuren des Protests, die „Tafel“-Chef Jörg Sartor bewusst nicht wegmacht, das seien „Kindereien“, sagt er. Helfer in roten Fleecejacken laden Lebensmittel in großen grünen Plastikkörben aus. Darunter Salat, Brot und Bananen. Was die Kunden bekommen, wissen sie vorher nicht.
„Die Lebensmittelausgabe ist immer abhängig von den vorgegebenen Spenden.“ – Internetseite der Essener Tafel
Ein Neukunde, der schon bald Lebensmittel bekommen wird, ist Julian. Der 31-Jährige ist seit fünf Jahren arbeitslos und heute zum ersten Mal zur Tafel nach Essen gekommen. „Erst wegen der aktuellen Berichterstattung ist mir bewusst geworden, dass ich auch zur Tafel gehen kann“, sagt er. Zusammen mit seinem deutschen Pass und dem Hartz IV-Bescheid hat er eine Kundenkarte bekommen.
„Tafel“ in Essen-Borbeck am Wasserturm: Lebensmittel für Bedürftige. (Foto: Jana Glose / Orange by Handelsblatt)
So wie auch Rentner Peter, der sich heute eine neue Karte abholt, weil die alte ausläuft. Seit 2013 geht er zur Tafel. Zum Verbot sagt Peter: „Es ist natürlich immer traurig, wenn jemand abgelehnt wird, der hungrig hier hin kommt. Andererseits gibt es Leute, die mit dem Ellbogenprinzip versuchen, sich vorzudrängeln.“ Aus den Konflikten halte er sich eher raus.
Andere Tafeln in Deutschland wollen Ausländer nicht ausschließen
Was halten andere Tafeln in Deutschland von dem Aufnahmestopp für Ausländer? „Wir haben einen extra Ausgabetag für Flüchtlinge eingeführt“, erklärt eine Sprecherin der Tafel in Mönchengladbach. Teilweise arbeite man auch mit Dolmetschern, um den Ablauf verständlich zu erklären. Ausgeschlossen werde niemand.
Das gilt auch für Düsseldorf: „Für uns zählt nicht die Herkunft, sondern die Bedürftigkeit“, erklärt eine Sprecherin der Düsseldorfer Tafel. Es hätte auf Grund der hohen Flüchtlingszahlen zwar Wartezeiten gegeben, die Herkunft spiele hier aber keine Rolle.
Die Hamburger Tafel setzt bei der Lebensmittelausgabe auf ein Nummernsystem. Alle Wartenden ziehen eine Nummer, die die Rheinfolge für die Ausgabe vorgibt. „Wer sich dann nicht an die Regeln hält fliegt raus“, erklärt ein Sprecher der Hamburger Tafel.
Ein ähnliches System verfolgt auch die Tafel in Frankfurt. „Bei uns ziehen alle Kunden nach der Lebensmittelausgabe eine Nummer, die für die nächste Ausgabe gilt“, erklärt eine Sprecherin. Auch wenn der Ton rauer geworden sei, klappe das System gut. Eine Sprecherin der Berliner Tafel erklärt, dass sich ein Aufnahmestopp, falls dieser nötig würde, bei ihnen gegen alle Kunden wenden würde.
Bei der Essener Tafel will man erstmal weiter am Aufnahmestopp festhalten. Bei einem runden Tisch in den nächsten zwei Wochen soll aber über eine Neuregelung diskutiert werden. „In sechs bis acht Wochen sieht die Welt vielleicht wieder anders aus“, sagt Tafel-Chef Sartor.
Für Dadashi ist das eine lange Zeit. Ohne die Lebensmittel der Tafel sei es für ihn und seine Frau jetzt sehr schwierig. Er bekomme für seine Familie nur 650 Euro vom Amt. „Ich finde das nicht ok. Die Tafel ist für alle da, nicht nur für Deutsche.“
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