Sportspychologin Jeannine Ohlert erklärt die Psychologie des Scheiterns
Jeannine Ohlert arbeitet am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln. Hier erklärt sie, wie Schalke 04 in seine historische Ergebniskrise gerutscht ist, was die psychische Belastung bei den Spielern auslöst - und wie man den Negativtrend beenden könnte.
Frau Ohlert, der FC Schalke 04 hat im Januar noch von der Champions League geträumt, heute steht die Mannschaft nach 25 sieglosen Spielen in Folge auf dem letzten Platz. Wie kann das sein?
Das kann an jeder Menge Faktoren liegen. Meistens ist es so, dass der erste Auslöser ganz einfach mit Pech verbunden ist. Danach kann es passieren, dass sich die negative Situation verselbstständigt und die Spieler mit jeder neuen Niederlage mehr Selbstbewusstsein verlieren. Wenn man dann das Gefühl bekommt, dass keine Maßnahme hilft, stellt sich irgendwann Hilflosigkeit ein.
Wenn Pech der Auslöser ist, hätte es also jede Bundesliga-Mannschaft treffen können?
Erstmal ja, aber wie sich so eine sportliche Krise entwickelt, hängt stark von der Persönlichkeit der Spieler und ihrem Umgang mit Misserfolgen ab. Da gilt es, als Mannschaft Zusammenhalt zu finden und gemeinsam Fehler und Verbesserungspotenzial einzugestehen. Aber wenn die Spieler trotz eigener schlechter Leistung die Schuld bei anderen suchen, bricht die Dynamik einer Mannschaft schnell auseinander. Das ist mit das Schlimmste was passieren kann, denn dafür ist die Leistungsdichte in der Bundesliga einfach zu hoch.
Sind die Reibereien und Respektlosigkeiten in der Kabine, über die in den letzten Wochen berichtet wurde, ein Symptom dieses Bruchs?
Eigentlich ist das leider fast normal in so einer Situation, denn alle sind angespannt und keiner hat mehr eine Idee, was man verändern kann. Da ist es Gruppenpsychologisch ganz natürlich, dass es irgendwann zu Auseinandersetzungen kommt. Wenn jeder das Gefühl hat, die anderen machen zu wenig, sinkt das Vertrauen zu einander. Diese Frustration äußert sich dann in Situationen, in denen aufeinander losgegangen wird, anstatt zusammen zu arbeiten. Das ist im Mannschaftssport sehr problematisch - denn alleine kann man das Spiel nicht gewinnen.
Ist es also für Einzelsportler leichter, aus einer sportlichen Krise zu finden?
In der Theorie können Mannschaften in schwierigen Situationen sogar eine positive Dynamik entwickeln, die man als Einzelsportler niemals erreichen kann. Eine Dynamik, in der jeder für den anderen kämpft, man sich gegenseitig motiviert und man gemeinsam über sich hinauswächst. Da sind aber die Führungsspieler gefragt, positiv voran zu gehen und die anderen Spieler mitzureißen. Wenn sie aber keine geeignete Persönlichkeiten haben, um mit Krisen umzugehen, kann genau das Gegenteil passieren. Da sprechen wir in der Psychologie vom gruppendynamischen Phänomen der emotionalen Ansteckung. Die negativen Gefühle einzelner Spieler können sich auf eine ganze Mannschaft übertragen. Dann werden diejenigen, die prinzipiell noch Hoffnung hatten, mit runter gezogen.
Wie gelingt es, in so einer Situation positiv voran zu gehen?
Es ist vom Kopf her immer schwieriger, zu versuchen, etwas Negatives zu verhindern, als etwas Positives zu erreichen. Das ist genau das Problem, was die Schalker gerade haben. Sie versuchen jede Woche die nächste Niederlage zu verhindern und haben dadurch mental nur noch negative Impulse. Das macht auf Dauer nicht nur was mit dem Kopf, sondern auch mit dem Körper. Man kann nicht schlecht gelaunt sein und trotzdem selbstbewusst dastehen - das sieht man auch an der Körpersprache der Spieler. Die Aufgabe der Führungsspieler ist es, gerade jetzt Selbstbewusstsein auszustrahlen und die große Herausforderung positiv anzunehmen.
Das klingt nach keiner leichten Aufgabe.
Überhaupt nicht. Dass sich die Spieler damit schwer tun, ist ganz natürlich. Wenn man so eine schlimme Serie hat, dass man medial schon mit der schlechtesten Bundesliga-Mannschaft aller Zeiten verglichen wird, ist die Angst groß, sich zum Deppen der Nation zu machen. Und Angst führt nicht gerade dazu, selbstbewusst in ein Spiel zu gehen.
Sie sprechen den Bundesliga-Negativrekord von Tasmania Berlin an. Die Mannschaft galt aber im Gegensatz zu Schalke schon vor ihren 31 sieglosen Spielen in Folge als zu schwach für die Bundesliga. Was macht so eine Negativserie mit einer Mannschaft, die nach eigenem Selbstverständnis eher um die Europa-Pokal-Plätze spielen müsste?
Das macht es natürlich noch mal viel schlimmer, weil man so wirklich gar keine Erklärung dafür hat, was das Problem ist. Es bringt nichts, vermeintlich gute Spieler im Kader zu haben, wenn sie in so einer Situation keine Antworten finden. Die letzten Spiele haben einem von außen nicht wirklich das Gefühl gegeben, dass die Mannschaft noch Ideen hat.
Ist Schalkes Kader mental nicht für den Abstiegskampf geeignet?
In Phasen, in denen es nicht läuft, braucht der Kader Schlüsselspieler, die auch und vor allem dann ihre Leistung abrufen können. Diese Stressresistenz sieht man den Spielern vorher aber natürlich nicht an. Wenn man dann viele Spieler im Kader hat, die Schwierigkeiten damit haben, mit Negativsituation umzugehen und nur funktionieren, wenn es gut läuft, hat der Trainer ein Problem. Der kann schließlich nicht mitten in der Saison die halbe Mannschaft austauschen, sondern muss mit den Spielern arbeiten, die da sind.
Wird deswegen in solchen Situationen häufig der Trainer gewechselt?
Ja, obwohl es ehrlich gesagt Studien gibt, die belegen, dass Trainerwechsel gar nicht so eine große Wirkung haben. Das haben wir ja jetzt auch exemplarisch bei Schalke gesehen: Der neue Trainer hat ja nichts gebracht. Natürlich gibt es auch Situationen, in denen ein neuer Impuls hilfreich ist, aber der gewünschte Effekt ist oft nur kurzfristig. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man den Vereinen eher raten, geduldig zu bleiben und auch in Krisensituationen am Trainer festzuhalten, so wie das beispielsweise Werder Bremen oder der SC Freiburg machen.
Einige Schalke-Fans befürchten, dass die durch die Pandemie bedingten Zuschauerausschlüsse den Negativtrend ihres Vereins begünstigt haben. Wäre gerade in so einer schwierigen Phase die Unterstützung bei den Heimspielen besonders wichtig?
Im Gegenteil. Ich glaube, dass es im Moment für die Mannschaft dankbarer ist, dass sie keine Fans vor Ort haben. Den öffentlichen Druck haben sie sowieso, aber ohne Zuschauer bleiben zumindest die unmittelbaren Reaktionen aus. Die Fans haben recht, dass sie zu Beginn der schlechten Phase positiv auf das Spiel ihrer Mannschaft eingewirkt hätten. Aber sie können nicht im Ernst behaupten, dass sie jetzt nach so einer Serie noch bedingungslos hinter der Mannschaft stehen würden. Da würden einige auf den Zäunen stehen, die Spieler auspfeifen und fordern, dass irgendwer in die Kurve zum Rapport kommt. Diese zusätzliche Belastung ist aus psychologischer Sicht natürlich überhaupt nicht hilfreich. Eigentlich müsste man versuchen, diesen enormen Druck irgendwie zu mindern.
Haben einige Fans Schwierigkeiten, sich in die Situation der Spieler hineinzuversetzen?
Der Druck auf Bundesliga-Profis wird definitiv unterschätzt. Es liegt in der Natur des Menschen, sich kompetent fühlen zu wollen - gerade in der Wahrnehmung anderer. Wir kennen alle aus dem eigenen Beruf, wie es sich anfühlt, einen Fehler zu machen und dafür kritisiert zu werden. Wenn man sich jetzt vorstellt über elf Monate lang jeden Tag auf der Arbeit mit der eigenen schlechten Leistung konfrontiert zu werden, bekommt man eine relativ gute Vorstellung, worunter die Spieler gerade leiden. Derartige Niederlagen vor so einer großen Öffentlichkeit zu haben, ist mit das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Da muss man psychisch sehr belastbar sein, um das auszuhalten.
Nehmen die Spieler die Krise mit nachhause?
Wer schafft das schon, die Arbeit auf der Arbeit zu lassen und zuhause wieder gut gelaunt zu sein? Gerade wenn man die Erwartungen nicht erfüllt, funktioniert es nicht, den enormen Druck zumindest bei der Familie oder dem Lebenspartner abzuschütteln. Das geht dann an die Substanz und wirkt sich auf Dauer auf die Leistung aus.
Was würden Sie als Sportpsychologin den Spielern raten?
Es ist wichtig, sich nicht so viel mit den Medien auseinander zu setzen. Es hat noch keinem was gebracht, im Kicker zu lesen, dass die eigene Leistung mal wieder mit der Note fünf bewertet wurde. Da im Moment eben nur negativ über die Spieler berichtet wird, müssen sie sich davon zu gut es geht abschotten. Für manche ist es aber trotzdem hilfreich, sich mit Menschen zu umgeben, die einem konstruktive Kritik geben und nicht nur sagen, wie gut man eigentlich ist.
Und auf dem Platz?
Da müssen sich die Spieler auf ihre eigenen Stärken besinnen. Aus sportpsychologischer Sicht hilft es, sich für das Spiel konkrete Aufgaben zu suchen. Dazu gehört nicht, dass man Tore schießen oder verhindern will, sondern Kleinigkeiten, wie das richtige Stellungsspiel, der saubere Pass oder der aggressive Zweikampf. Man findet so über individuelle Ziele in die Konzentration und knüpft langsam wieder an die alten Leistungen an.
Schalkes Stürmer Mark Uth zeigte sich nach der Niederlage gegen Wolfsburg vor zwei Wochen in einem vielzitierten Fernseh-Interview sehr ratlos und verletzlich. Er habe keine Idee, was die Mannschaft besser mache könne und ihm sei eigentlich zum weinen zumute. Kann man von den Spielern überhaupt erwarten, dass sie wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen?
Nein, das muss von oben initiiert werden. Das sind alles Anforderungen, die ein Sportpsychologe gemeinsam mit dem Trainer erarbeiten kann - aber dafür muss man erstmal einen Psychologen an die Mannschaft ran lassen und das ist in der Bundesliga leider noch die Ausnahme.
Wie würden Sie der Mannschaft helfen?
Wir würden empfehlen, zuallererst herauszufinden, woran es genau in der Teamdynamik hängt. Ist es der Mannschaftszusammenhalt? Die Kommunikation? Liegt es am fehlenden Vertrauen zu den Mitspielern oder vielleicht sogar am fehlenden Vertrauen an sich selbst? Da gibt es viele kleine Einzelbausteine, die man mit Fragebögen, Teambeobachtungen und Gesprächen auseinander dröseln kann. Wenn da zum Beispiel rauskommt, dass sich die Spieler gegenseitig nicht Vertrauen, kann man das Problem gezielter angehen. Das schafft man natürlich nicht alleine, dafür braucht man die Führungsspieler. Wenn man der Handvoll Spieler, die die ganze Mannschaft mitreißen können, ihr Vertrauen und ihr Selbstbewusstsein zurückgeben kann, hilft man dem ganzen Verein.
Heute Abend spielen die Schalker gegen den in dieser Saison noch ungeschlagenen SV Bayer Leverkusen. Wie können sie das 26. sieglose Spiel in Folge verhindern?
Wenn ich da eine schlaue Idee hätte, wäre ich wahrscheinlich schon längst Trainerin auf Schalke (lacht). Es würde psychologisch auf jeden Fall helfen, nicht die nächste Niederlage verhindern zu wollen, sondern nach dem ersten Sieg zu streben.