Als ich fünf Jahre alt war, besuchte ich oft meine Urgroßeltern. In einem Dorf in der Nähe von Jekaterinburg. Meine Urgroßmutter lehrte mich damals zu lesen, und in den Pausen sagte sie zu mir: „Geh zu deinem Großvater, rede mit ihm!“ Urgroßvater Alexej Jakimow war im Zweiten Weltkrieg an der Front gewesen. Er kämpfte während der Belagerung von Leningrad. Dort wurde er von einem Projektilfragment am Kopf getroffen.
Ich setzte mich neben ihn auf einen Stuhl am Ofen und fragte ihn: „Urgroßvater, erzähl mir vom Krieg!“ Er drehte das Brennholz im Ofen um und begann seine Geschichte. Ich erinnere mich daran, dass mein Urgroßvater in seinen Monologen ein wenig wortkarg war, und erst später wurde mir klar, dass diese Geschichten in ihm schreckliche Erinnerungen an den Krieg hervorriefen. Was er erlebt hatte, tauchte dann immer wieder vor seinen Augen auf. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus kämpfte er im sowjetisch-japanischen Krieg. 1947 wurde er aus der Armee entlassen.
Wahrscheinlich habe ich deshalb Hochachtung vor den Veteranen und dem Tag des Sieges entwickelt. Meine Kindheit habe ich in einem kleinen Dorf im Ural verbracht. Die Festlichkeiten zum 9. Mai dort waren innig und unpolitisch: Mein Urgroßvater trug eine Jacke voller Orden und ging auf den Marktplatz, wo andere Kriegsveteranen schon auf ihn warteten. Schulkinder in weißen Hemden zogen mit Kränzen zum Denkmal.
Nach der Kranzniederlegung fand im Dorf ein festliches Konzert statt: Die Menschen sangen Lieder, und ich trug mehrmals Gedichte vor. In der Dorfbibliothek konnte man ergreifende Briefe von sowjetischen Frontsoldaten nachlesen. In der Schule gab es zur Feier des Tages Wandzeitungen. Aber jedes Jahr nahm die Zahl der Veteranen ab. 2008 starb auch mein Urgroßvater. Der Sinn des 9. Mai besteht darin, sich an die Opfer, die sie gebracht haben, zu erinnern. Deshalb besuchten wir meinen Urgroßvater auch regelmäßig auf dem Friedhof, nicht nur am 9. Mai, sondern auch an anderen Gedenktagen.
Wie ehrt man Veteranen richtig?
Es war mir wichtig, nicht nur die Erinnerung zu bewahren, sondern auch die Heldentaten unserer Landsleute, die für den Frieden kämpften, nicht zu entwerten. Doch was können wir jetzt beobachten? Während in der Ukraine Krieg herrscht und Hunderte von Zivilisten sterben, wurden in russischen Städten am Tag des Sieges militärische Paraden ausgerichtet. Die Militärfahrzeuge waren teils mit Bildern russischer Soldaten, die in der Ukraine gefallen waren, geschmückt. Auf ihnen auch der große Buchstabe Z.
In russischen Städten marschierte am 9. Mai aber auch das „Unsterbliche Regiment“: Tausende gingen mit Fotos ihrer Väter und Großeltern, die am Krieg gegen Nazi-Deutschland beteiligt gewesen waren, auf die Straße. In Jekaterinburg wurde dabei ein Mann gesehen, der ein Foto von Michail Tolstykh trug, einem Kämpfer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“. Tolstykh starb 2017. Was er mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte, weiß Gott allein.
Am Vortag hatte die Polizei in Jekaterinburg zwei Rentnerinnen festgenommen, die Flugblätter gegen den Krieg verteilten. Am Morgen des 9. Mai nahmen die Strafverfolgungsbehörden mehrere Personen fest, die versuchten, weiße Schiffe als Friedenssymbol auf dem Fluss Iset treiben zu lassen. Ihnen allen drohen Strafen wegen „Diskreditierung der russischen Armee“. Es ist verboten, für den Frieden einzutreten.
Heute definieren die russischen Behörden, wie man Veteranen „richtig“ ehrt. Dabei wussten wir es schon immer besser. Dazu muss man sich nur daran erinnern, wie und warum das „Unsterbliche Regiment“ 2012 zum ersten Mal durch die sibirische Stadt Tomsk gezogen ist – und was danach mit ihm geschah. Einer der Gründer der Bewegung, Sergei Lapenkov, hat mir am Telefon erklärt, dass es sich bei dem Projekt ursprünglich um eine Bürgerinitiative handelte, die in russischen Städten ohne staatliche Unterstützung entstanden sei. Das „Unsterbliche Regiment“, sagt Lapenkov, sollte all jene zusammenbringen, denen wir den Sieg über den Nazismus verdanken. Für Lapenkov ist das „unsterbliche Regiment“ keine Bewegung, sondern ein Phänomen.
Das „Unsterbliche Regiment“ marschiert
Im Jahr 2012 marschierte das „Unsterbliche Regiment“ mit rund zweitausend Porträts von Veteranen zum ersten Mal durch die Straßen von Tomsk; in den Folgejahren schlossen sich dem Zug Jekaterinburg, Perm, Barnaul, Wladiwostok und weitere Städte an. Auf der Projektwebsite konnten Familien Fotos, Dokumente und Briefe hochladen. Viele Menschen wandten sich an die Initiative mit der Bitte, ihre Vorfahren zu finden. Das „Unsterbliche Regiment“ in Tomsk richtete daraufhin ein eigenes Suchzentrum ein und begann, Menschen bei der Recherche in Archiven zu unterstützen. Die Situation änderte sich, als der Kreml von der Initiative in Tomsk erfuhr.
„Im Jahr 2015 wurde dem Kreml klar“, erzählte mir Sergei Lapenkov, „dass viele unabhängige Menschen auf die Straße gehen, die er nicht kontrollieren konnte. Die Beamten beschlossen daraufhin, eine föderale Struktur mit ähnlichem Namen zu schaffen, um das Tomsker ‚Unsterbliche Regiment‘ zu vereinnahmen. Also gibt es jetzt zwei ‚Unsterbliche Regimenter‘; wir haben unterschiedliche Symbole und Ideologien.“
Ende April distanzierte sich das Tomsker „Unsterbliche Regiment“ von seinem staatlichen Klon und veröffentlichte auf seiner Website eine Erklärung, in der es hieß, dass es nicht mit künftigen Aufmärschen am 9. Mai in Verbindung gebracht werden wolle, da sich die Bedeutung dieser Form des Gedenkens verändert habe.
Wozu dieses „Hurra“?
Ich kann die Initiatoren verstehen: Es wird mittlerweile mehr über das richtige Erinnern an die Kriegsveteranen als über Aufrichtigkeit des Gedenkens debattiert. Nach einer Zählung des Nachrichtenportals „Media 66.ru“ widmete Wladimir Putin in seiner Gedenktagsrede dem Großen Vaterländischen Krieg 15 kurze Sätze, der „speziellen militärischen Operation“ und den Beziehungen zu den USA und der Nato widmete er hingegen 21 Absätze.
Am Abend des 9. Mai fanden in Moskau, Jekaterinburg, Tscheljabinsk und anderen Städten Feuerwerke statt. Pompös waren sie. Unter Salven riefen tausende Menschen „Hurra“. Sie jubelten. Viele von ihnen haben am 10. Mai einen freien Tag: Jemand wird im Hinterhof Fleisch grillen. Ein anderer wird in eine Bar gehen, um die Ergebnisse der englischen Premier League zu disktutieren. Zur gleichen Zeit verließ ein Bekannte von mir ihre Heimatstadt Charkiw, weil sie müde ist. Müde von russischen Bomben. Monatelang lebte sie in der Metro von Charkiw. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Eine andere Freundin von mir aus Melitopol nimmt seit einigen Monaten an Kundgebungen gegen die Okkupanten teil. Und in der kleinen Stadt Kachkanar im Ural fand ein Begräbnis für einen 21-jährigen Soldaten statt, der in diesem Krieg gefallen war. Wozu dieses „Hurra“? Ich verstehe es nicht.
Eines Tages werden meine Altersgenossen Enkelkinder haben, die auf Wikipedia über den Krieg in der Ukraine lesen werden. Was werden wir ihnen sagen können? Ich hoffe, dass wir zumindest ehrlich sein werden.
Ivan Ruslyannikov, Jahrgang 1994, lebt als freier Journalist in Jekaterinburg