Sampal Devi wurde im Alter von 12 Jahren verheiratet, mit 15 bekam sie ihr erstes Kind und mit 20 Jahren war sie bereits Mutter von fünf. Bis dahin klingt ihr Lebenslauf wie der vieler anderer indischer Frauen. Und doch gibt es etwas, was sie anders macht als andere Frauen: Sie wehrt sich gegen ebendiese Konventionen. Wie aus struktureller Gewalt eine Bewegung entstand.
Der Anfang dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte bringt uns nach Uttar Pradesh, einem der Bundesstaaten, in denen die soziale Ungleichheit Indiens besonders deutlich zu spüren ist. Wahrzeichen wie der Taj Mahal, die vom Reichtum des ehemaligen Imperiums zeugen, stehen hier extremer Armut und sozialen Problemen gegenüber. Mit seinen 200 Millionen EinwohnerInnen, mehr als 71 Millionen inländischen TouristInnen und einem Durchschnittseinkommen von 11.500 Rupien pro Jahr (ca. 160 Euro) ist Uttar Pradesh der bevölkerungsreichste, touristischste und zweitärmste Staat Indiens. Und der Staat der Superlative.
In Banda, der Region im Süden des Staates aus der auch Sampal Devi stammt, sind die Menschen am schwersten von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Ein Großteil der hier Beheimateten gehört der Kaste der Dalits an, der „Unberührbaren". Auch wenn das Kastensystem im Jahr 1949 abgeschafft wurde, macht die Geburt in die niedrigste Kaste Dalits immer noch zu AußenseiterInnen der indischen Gesellschaft. Aufgrund ihres Status als „Unberührbare" ist für sie der Zugang zu Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen erschwert. Arbeitslosigkeit und Armut sind die Folge. Obwohl Dalits insgesamt ein Fünftel der indischen Bevölkerung ausmachen, werden sie noch immer Opfer von Gewalt, Landraub und Diskriminierung. Für die Frauen dieser Kaste sind die Folgen besonders verheerend, sie stehen nämlich nicht nur in der Kaste- sondern auch in der Geschlechterhierarchie auf einer unteren Stufe.
Dass sexuelle und strukturelle Gewalt zu Indiens größten Problemen gehören, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Zu oft erscheinen „Massenvergewaltigung" und „Missbrauch" in den deutschen Schlagzeilen im Zusammenhang mit Indien. Dabei werden in diesen Nachrichten nicht selten Stereotype und Pauschalisierungen reproduziert, die das Land und seine Menschen stigmatisieren und nicht realitätsgetreu widerspiegeln. Und doch darf die Problematik der Ungleichheit der Frau nicht ignoriert werden. Auch der Fall, in dem eine junge Frau in Delhi in einem öffentlichen Bus von sechs Männern vergewaltigt und ermordet wurde, sorgte weltweit, aber vor allem in Indien, für Aufruhr und Proteste. Männer und Frauen gingen auf die Straßen und erhoben ihre Stimmen gegen Ungleichheit. Der Sinneswandel schien seinen Lauf zu nehmen - jedoch vor allem in den gehobenen Gesellschaftsschichten der Städte. In den Regionen, in denen Armut maßgeblich das Leben der Menschen bestimmt, haben Frauen es immer noch sehr schwer für ihre Rechte einzustehen.
Rituale und Traditionen, an denen sich insbesondere das Leben in den ländlichen und ärmeren Regionen orientiert, binden die Frau an eine bestimmte gesellschaftliche Rolle. So sieht es die Tradition zum Beispiel vor, dass die Frau nach der Heirat in die Familie ihres Mannes übergeht und dort, im besten Fall, Hausfrau ist. Für die Eltern lohnt es sich somit nicht, in die Ausbildung der Tochter zu investieren. Der Zugang zu Bildung, und damit auch zu Arbeit und zu finanzieller Unabhängigkeit bleibt vielen jungen Frauen verwehrt. Gefangen in ihrer Abhängigkeit ist es für sie oft unmöglich für ihre Rechte einzustehen und einen Wandel zu vollziehen. Das Bild der Frau als das "schwache Geschlecht" bleibt somit bestehen - ein Teufelskreis. Auch die altbewährte Mitgift ist für viele Familien eine finanzielle Herausforderung, die aus weiblichem Familienzuwachs eine Last macht. „Ein Mädchen aufzuziehen, ist wie Nachbars Garten wässern", sagt ein indisches Sprichwort, das die Grundproblematik der Mentalität prägnant skizziert.
Jahrelang gehörte dies auch zur Lebensrealität Sampal Devis. Zwar hat sie einen liebevollen Ehemann, der ihr viele Freiheiten gewährt, jedoch musste sie oft mit ansehen wie ihre Bekannten, Nachbarinnen, Freundinnen nicht das gleiche glückliche Schicksal ereilte. Viele durften nicht arbeiten, waren den Launen ihrer Männer ausgesetzt. Als sie im Jahr 2002 von dem Fall einer Nachbarin hörte, die von ihrem alkoholisierten Ehemann verprügelt wurde, reichte es ihr. Die Polizei hatte den Fall ignoriert und da niemand für Gerechtigkeit sorgte, wollte sie es eben selbst tun. Sampal ergriff die Initiative, ging in das Haus und stellte den Mann zur Rede. Er zeigte sich uneinsichtig, sodass sie sich gezwungen sah zu gewaltsamen Methoden zu greifen. Nachdem sie ihn vor den Augen des gesamten Dorfs verprügelt hatte, versprach er, seiner Ehefrau nie wieder etwas anzutun. Das brachte einen Stein ins Rollen: immer mehr Frauen suchten Sampal auf, erzählten von ihren Schicksälen und baten um Hilfe. Gemeinsam zogen sie los, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Gulabi Gang war entstanden.
In seiner ursprünglichen Bedeutung versteht man eine „Gang" als eine Verbindung von Kriminellen. Diese Gang ist genau das Gegenteil. Sie kämpft gegen Vergewaltiger, gewaltsame Ehemänner und korrupte PolizistInnen. Ihr Markenzeichen: der pinke Saree und der Lathi, ein Schlagstock aus Bambus, mit dem durchaus zugeschlagen wird. Dem ersten Vorfall folgten viele weitere. Viele Frauen kamen nicht nur mit ihren Problemen zu Sampal Devi, sondern schlossen sich der Gang an. Aussagen des Nachrichtensenders Al Jazeera zufolge gehören in ganz Uttar Pradesh der Bande 400.000 Frauen aus allen Bevölkerungsschichten an. Sie setzen sich für Frauen- aber auch für Menschenrechte ein, organisieren Protestmärsche und bewachen zum Beispiel Fair-Price-Läden, die Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt verscherbeln, anstatt es wie geplant zu subventionierten Preisen an die Armen zu verkaufen. Mittlerweile ist die Gulabi-Chefin auch bei der Polizei zu einer Respektperson geworden, ihr werden die Fälle von häuslicher Gewalt und das Lösen von Konflikten überlassen.
Die ersten Bilder der Dokumentation „The Pink Saree Revolution", die die Frauen bei Geschicklichkeitsübungen mit dem Schlagstock zeigen, wirken abschreckend. Auch eine spätere Szene, in der Sampal ein nicht gerade sachliches Verfahren mit einem gewaltsamen Ehemann führt, wirft die Frage nach der Effektivität der Methode auf. Macht es Sinn mit Gewalt gegen Gewalt zu kämpfen? Darf das Verteidigen der Menschenrechte in dem Land, in dem sich Gandhi pazifistisch für sie einsetzte, gewaltsam sein? Und: ist das Ergebnis davon nicht viel mehr als ein nachhaltiger Sinneswandel, eher Angst und Groll? „Das hier ist keine Gewalt, das ist Selbstverteidigung. Und das ist keine Waffe, sondern nur ein Stock. Dürfen wir uns denn nicht wehren?", so Sampal. Man könnte die Methoden der Frauengang als widersprüchlich verurteilen und kritisieren, jedoch wirken sie in den Kontext der indischen Gesellschaft gestellt weniger paradox. Denn in einem Land, in dem Gewalt als ein oft anerkanntes Mittel für die Lösung von Konflikten gilt, sehen die Frauen es als die einzige Möglichkeit, um Respekt zu erlangen. Sie möchten beweisen, dass sie die gleiche Sprache sprechen, die der Gewalt, um für Gerechtigkeit zu sorgen und irgendwann vielleicht eine andere, friedlichere Sprache sprechen zu können.
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