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Abi-Ball als Event: Ein letztes Mal Schul-Stoff

Wenn Andrea über ihren Abi-Ball spricht, klingt sie immer noch aufgeregt. Stolz erzählt die Zwanzigjährige von ihrem Kleid, das sie für diesen Anlass vor fast einem Jahr gekauft hat, und zeigt ein Foto, auf dem 38 Absolventinnen nach Farbe der Robe aufgereiht stehen. Einen Arm in die Hüfte gestemmt, und wäre da nicht der überverhältnismäßige Anteil an Rosa, sähe die Gruppe aus wie ein textilgewordener Regenbogen.

Andrea und die anderen Absolventinnen könnten mit ihren bodenlangen Kleidern genauso gut vor einer amerikanischen Highschool stehen, stattdessen entstand das Foto im niedersächsischen Zeven, einer Kleinstadt zwischen Bremen und Hamburg. In wenigen Wochen werden wieder ganz ähnliche Bilder von Abschlussbällen produziert. Nicht dass Papas, Mamas oder Schulleiter diese Aufnahmen machen würden. Dafür sind mit hoher Wahrscheinlichkeit professionelle Fotografen verantwortlich. Aus dem Abi-Ball ist ja längst ein Event geworden, das nicht mehr viel mit einer simplen Zeugnisübergabe in der Aula zu tun hat.

Immer mehr absolvieren das Abitur

Vergangenes Jahr machten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 453.000 Schüler in Deutschland ihre allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife, 1,9 Prozent mehr als im Jahr davor. Beendete 2013 jeder Dritte die Schule mit Abitur, so machte zehn Jahre zuvor nur fast jeder Vierte diesen Abschluss. Mit der wachsenden Anzahl an Abiturienten hat sich auch die Bedeutung des Abiturs gewandelt. „Die Abiball-Kultur, die noch in der Elterngeneration sehr stark in einer Tradition eines Übergangsrituals stand und den bevorstehenden Schritt von der Schulausbildung in den Beruf oder in höhere akademische Bildung markierte, gibt es heute nicht mehr", erklärt die Soziologin Beate Großegger vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien. Die heutigen Absolventen haben Möglichkeiten und Optionen wie keine Generation vor ihnen. Damit geht aber auch eine Ungewissheit einher.


Emilia, die 18 Jahre alt ist und dieses Jahr in Berlin ihr Abitur macht, erklärt, dass der Abi-Ball für sie so besonders sei, weil sie noch einmal mit ihrer gesamten Jahrgangsstufe einen Abend verbringen könne, bevor jeder in eine andere Richtung gehe. Die Abiturientin Elena aus Baden-Baden sieht das ähnlich: „Außerdem ist der Abi-Ball der Abschluss vom Schulleben und ein kleiner Schritt in die Selbständigkeit."

Was beide Schülerinnen nach dem Abitur machen wollen, wissen sie nicht genau, auf ihrer Liste stehen Praktika, Geld verdienen, Reisen und Fremdsprachen aufbessern. Bevor es aber so weit ist, findet Ende Juni ihr Abiturball statt, das vorerst letzte Ereignis, das sie mit ihren Schulkameradinnen teilen und deshalb als Abschlussparty zelebrieren. „Der Abi-Ball ist von der ursprünglichen Bedeutung als Übergangsritual entkoppelt und wird nach dem Vorbild des amerikanischen ,Way of Life' zu einer großen Party und einem fröhlich-bunten Ereignis, das nur für einen Abend lang Bedeutung hat", sagt Großegger.

Ein besonderes Kleid für eine besondere Party

Für diese große Party muss natürlich auch ein besonderes Kleid her, denn für viele Mädchen ist es auch die erste Gelegenheit, ein aufwendig gefertigtes Kleidungsstück anzuziehen. Andrea fuhr vor ihrem Abschlussball mit Freundinnen und Eltern von ihrem Heimatdorf Zeven nach Bremen, Hamburg und in kleine Nachbarstädte, bis sie sich für ein bodenlanges rosa Kleid entschied. Es ist rückenfrei, hat keine Träger und ist am Dekolleté mit silbernen Steinen besetzt.

Dass das Abi-Ball-Kleid für die Schülerinnen immer wichtiger wird, sieht auch Claudia Pfeiffer. In ihr Berliner Geschäft für Braut- und Ballmode Crusz reisen die Mädchen aus ganz Deutschland an. Bereits 2004 verkaufte Pfeiffer die ersten Kleider an Schülerinnen, aber in den vergangenen Jahren sei die Anzahl der jungen Kundinnen und deren Ansprüche gestiegen. Die ersten Schülerinnen kämen unmittelbar nach den Abi-Bällen des vorherigen Jahrgangs in das Geschäft in Berlin-Mitte, weil sie sich so sicher sein könnten, dass kein anderes Mädchen zu seinem Abschluss das gleiche Kleid trage, erzählt Pfeiffer.

Verkauf geht nach Weihnachten los

Richtig los geht der Verkauf aber unmittelbar nach Weihnachten, ein Ballkleid unterscheidet sich für gewöhnlich sehr von dem Preis, den die Schülerinnen sonst für ein Kleidungsstück ausgeben, weshalb viele ihres zu Weihnachten geschenkt bekommen. Die Kleider im mittleren Preissegment liegen bei Crusz zwischen 300 und 400 Euro, die günstigsten Kleider gibt es ab 200 Euro. Doch es geht noch teurer. „Auf ein Abi-Ball-Kleid wird schon sehr viel Wert gelegt. Wir haben durchaus Mädchen, und das ist kein Scherz, die suchen sich Anderthalbtausend-Euro-Kleider aus, und das ist für die Mutter als auch für das Mädchen völlig normal."

Zumindest brauchen die Schülerinnen, die bei Claudia Pfeiffer so viel Geld ausgegeben, keine Angst zu haben, dass ein Mädchen im selben Kleid auf dem Abschlussfoto steht. Denn jedes verkaufte Kleid wird in einer Datei vermerkt, sortiert nach Schule und Land, damit es in einer Farbe nur einmal in eine Jahrgangsstufe verkauft wird. Das ist auch Florentine wichtig, sie habe sich oft mit Freundinnen ausgetauscht, und alle wollten Kleider, die einmalig seien. Florentine nutzt wie viele andere Schülerinnen die Osterferien, um bei Pfeiffer nach einem Kleid zu schauen. Sie ist 15 Jahre alt und macht gerade ihren Abschluss an der Gesamtschule, aber auch der soll gefeiert werden. Florentine hat genaue Vorstellungen, wie ihr Kleid aussehen soll: „Hauptsache, rosa und Glitzer, es soll schön funkeln und lang sein, mit Ärmeln." 300 Euro hat sie sich als Limit für ihr Kleid gesetzt. Ob sie sich dann auch für ihren Abi-Ball ein neues Kleid aussuchen werde? „Ja, zehnte Klasse ist schon wichtig, aber wenn man Abi macht, ist es noch ein Schritt mehr." Später probiert sie ein rosa Tüllkleid an, das genau ihren Wünschen entspricht.

Viel Glitzer zum Stoff

Viel Glitzer gibt es bei Crusz sowieso zu kaufen, anders als Kleider deutscher Marken, die vielen oft zu bieder seien. Allen voran hängen hier Modelle von der amerikanischen Marke Sherri Hill, die typische „prom dresses" herstellt. Die Kleider sehen aus, wie man sie von Fotos von Freundinnen kennt, die in ihrem Auslandsjahr einen amerikanischen Schulball besucht haben: sehr farbintensiv und viel Taft. Zwischen den klassischen langen Roben hängen auch einige Zweiteiler. „Diese sind durch ihren Crop-Schnitt bei den jungen Kundinnen gefragt und haben den Vorteil, dass man das Oberteil oder den Rock noch einmal getrennt anziehen kann", erklärt Pfeiffer. „Beliebt sind diese Saison außerdem große Blumendrucke oder mit Pailletten bestickte Kleider."

Wer da etwas Schlichtes sucht, wie die 18 Jahre alte Noga, hat es schwer. Sie kommt aus Israel und macht gerade mit ihrer Mutter Urlaub in Berlin. Sie ist zufällig bei Crusz vorbeigekommen und sucht ein Kleid ohne Glitzer. Nogas Abschlussball ist im Juni, sie beschreibt ihn als „klassischen Ball mit Königin und König, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt". An den amerikanischen Kleidern läuft sie schnell vorbei. Die meisten Mädchen kommen hier mit ihren Eltern in das Geschäft, so auch Imke. Der Vater der Neunzehnjährigen erzählt, dass er sich für die Suche des Kleides einen Tag Urlaub genommen habe. Verbinden wollen sie die Fahrt von Niedersachsen nach Berlin mit einer Stadtbesichtigung. Zwei Stunden lang probiert Imke verschiedene Kleider an - und verlässt das Geschäft am Ende ohne eins.

Für viele Eltern wäre es wohl einfacher, wenn man die Kleider im Internet bestellen könnte. Auf der Website von Crusz kann man zwar einige Kleider anschauen, aber nichts kaufen, denn Claudia Pfeiffer möchte, dass die Mädchen in ihr Geschäft kommen, verschiedene Schnitte anprobieren und so ein Gefühl für Stoffe und Materialien bekommen. Trotzdem, der Online-Markt für Abi-Ball-Kleider ist in den vergangenen Jahren gewachsen. „Abiballmode" ist jetzt ein eigenes Segment, Kaufhäuser wie Peek & Cloppenburg und Appelrath-Cüpper verkaufen unter dieser Rubrik Kleider im mittleren und gehobenen Preissegment online.

Entwicklung ist Marketing-Coup

Soziologin Großegger sieht diese Entwicklung vor allem als Marketing-Coup. „Interessant scheint mir, dass sich heute in den jungen Konsumkulturen das Label ,Abiballkleider' durchgesetzt hat. Das heißt, man hat realisiert, dass sich die jungen Kunden und Kundinnen, die mit Online-Shopping aufwachsen, nicht so sehr an Modestilen, Schnitten und Kollektionen orientieren, sondern mit eher wenig ausgefeiltem Alltagssprachschatz durch den Dschungel der Angebote navigieren." Dass sich dieses neue Segment für die Kaufhäuser auszahlt, ist bei fast einer halben Million Absolventen pro Abschlussjahrgang selbsterklärend. Großegger sieht in dieser Entwicklung aber nicht nur den Gewinn für die Geschäfte: „Der Abi-Ball bietet ein schönes Ambiente, und die Abi-Ball-Mode, die in Kaufhäusern und Online-Shops mittlerweile zu einer eigenen Produktgruppe geworden ist, dient als Einladung, sich zu verkleiden, einen Abend lang aus den gewohnten Alltagsklamotten herauszuschlüpfen, um sich für einige Stunden im Stil der VIP-Szene, im Prinzesinnen-Style oder im High-Society-Look zu zeigen."

Die unterschiedlichen Preise und das breite Angebot von Shops im Internet wie Asos dürften viele Abiturientinnen ansprechen, doch entscheiden sich auch Schülerinnen gegen den Kauf im Internet. Der Berlinerin Emilia steht der Abiturballkleidkauf noch bevor, aber sie ist sich jetzt schon sicher, dass sie ihr Kleid vor Ort kaufen möchte: „Online ist mir das Risiko zu hoch, dass es nicht passt, und es ständig hin- und herzuschicken, ist mir zu aufwendig." Auch Elena aus Baden-Baden möchte ihr Kleid offline kaufen. Sie hat sich zwar schon viele Kleider im Internet angeschaut, ist aber bei der Entscheidung vorsichtig, weil man nie wissen könne, wie die Kleider in echt wirkten. Außerdem ist sie sich sicher, dass ihr Kleid gekürzt werden muss, darum kümmere sich dann ja das Geschäft, in dem sie es kaufe.

„Die größte Zielgruppe sind auf jeden Fall die Abiturientinnen"

Eine Verbindung zwischen online und offline möchte das junge Unternehmen Deinballkleid.de schaffen. Neben einem temporären Laden in Hamburg hat Deinballkleid.de dieses Jahr während der Abiturzeit drei Pop-up-Stores in Berlin, Köln und München eröffnet. „Die größte Zielgruppe sind auf jeden Fall die Abiturientinnen, auch unsere Werbung ist auf sie ausgerichtet. Dafür nutzen wir vor allem Instagram", erklärt Johanna, eine der Verkäuferinnen des Berliner Pop-up-Stores. Aus den Lautsprechern dröhnt laut House-Musik, und die Verkäuferinnen scheinen alle selbst nicht älter als Mitte zwanzig zu sein. „Manche Mädchen beschäftigen sich schon seit Dezember mit ihrem Kleid. Für sie ist es, als würden sie ein Hochzeitskleid aussuchen. Sie kommen zum Teil mit sechs Leuten, mit Freunden, Oma, Opa oder Geschwistern. Der Einkauf wird richtig zelebriert", sagt Johanna.

So gerät bereits der Kleiderkauf zum Event. Andrea, die vergangenes Jahr ihr Kleid gefunden hat, rät, genügend Zeit für den Kauf einzuplanen, da die Kleider meistens noch geändert werden müssen. Die meisten Geschäfte sind in Kontakt mit einer Schneiderin und können die Änderungen weitergeben. „Das Wichtigste ist aber, dass man in seinem Kleid tanzen mag." Bei Deinballkleid.de sind die Kleider nach Farben sortiert, von Gelb bis Dunkelblau ist alles dabei, ganz ähnlich wie auf dem Abi-Ball-Foto von Andrea. Auch hier wird jedes Kleid nur einmal pro Schule verkauft.

Für einen Abschlussball, wie man ihn lange nur aus amerikanischen Serien kannte, braucht es heute jedenfalls kein Auslandsjahr mehr.

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