Herr Klare, warum haben Sie sich auf einmal zu dieser Heimatsuche entschlossen?
Ich lebe schon lange Zeit in Berlin und reise als Journalist durch die ganze Welt. Heimat war für mich nie ein großes Thema. Um meinen 50. Geburtstag herum dachten meine Frau und ich darüber nach, eine Wohnung zu kaufen. Ich fragte mich, ob ich mich in Berlin heimisch fühle, und die Antwort war: nein. Beim Gedanken Heimat kam mir jedoch Hohenlimburg in den Sinn, das Städtchen, zu Hagen gehörend, an der Schnittstelle von Sauerland und Ruhrgebiet gelegen, in dem ich aufgewachsen bin, das ich mit 21 Jahren aber auch ganz gerne verlassen hatte.
Das ist sehr subjektiv. Es gibt viele Definitionen von Heimat. Was es aber im Großen ganz gut trifft: Heimat liegt zwischen Herkunft und Zugehörigkeitsgefühl. Das muss nicht immer das Gleiche sein. In Hohenlimburg leben noch alte Freunde von mir, für die ist das eins. Bei mir ist das schwieriger, weil ich weggegangen bin und mein Zugehörigkeitsgefühl, wie das oft in einer Großstadt ist, etwas diffuser wurde.
Es gibt den schönen Spruch: „Heimat ist nicht da, wo man geboren ist, sondern da, wo man begraben werden möchte." Bei meiner Wanderung kam ich an einen Ort in Langenstein-Zwieberge - eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Dort gibt es eine Stelle, wo 800 ehemalige KZ-Häftlinge verscharrt wurden, und direkt daneben ist ein Grab aus dem Jahr 2013 - von Louis Bertrand, einem französischen Widerstandskämpfer. Er überlebte das Lager, aber es blieb sein großer Wunsch, neben seinen Kameraden beerdigt zu werden. Das müssen die prägenden Erfahrungen und Begegnungen seines Lebens gewesen sein, auf die er sich die restlichen 70 Jahre bezog. Das hat mich sehr berührt.
In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie sich vor der Ankunft in Ihrer Heimatstadt fürchteten und in Melancholie verfielen. War es die Angst, nicht mehr die Stadt aus Ihren Erinnerungen vorzufinden?Unterwegs kam ich zu der Erkenntnis, dass Heimweh für mich ganz stark Zeitweh ist. Ich habe bestimmte Erinnerungen an den Ort, die überwiegend mit meiner Jugend und dem Lebensgefühl von damals verknüpft sind. Das sind viele prägende Erlebnisse wie die erste Liebe, der erste Vollrausch, all diese aufwühlenden Sachen machen die Verbundenheit zur Heimat aus. Der Ort ist ja noch der gleiche, aber diese Zeit ist verschwunden.
War die Ankunft dann so schlimm wie befürchtet?Es war Melancholie pur. Dazu ein regnerischer Sonntagabend. Hohenlimburg liegt im Tal, und ich stand auf dem Berg und schaute auf die Talseite, wo mein Elternhaus war, das mein Vater selbst gebaut hatte, das er später aber verkaufte. Dann lief ich weiter und sah meine alte Grundschule und erfuhr, dass dort jetzt eine Unterkunft für Asylbewerber ist.
Ich kam an mein altes Gymnasium; das war nur noch eine Ruine. Ein eindeutiges Heimatgefühl erlebte ich aber schon am Tag zuvor in einem Nachbarort. Ich hatte dort einen ganz speziellen Geruch in der Nase; das Städtchen liegt an dem gleichen Fluss wie Hohenlimburg, diese spezielle Geruchsmischung von Fluss und Wald durchströmte mich, und mir war plötzlich klar: Das ist meine Heimat.
Ein Geruch, den man erst wahrnimmt, wenn man die Heimat mal verlassen hat.Hätte mich jemand vorher gefragt, was denn der Geruch meiner Heimat ist, hätte ich gesagt: keine Ahnung, vielleicht die Pfannkuchen meiner Mutter. Aber dort hatte ich ihn plötzlich in der Nase und merkte, wie tief er sich in mein Gedächtnis eingeschrieben hat.
Auf Ihrer Reise sind Sie vielen Menschen begegnet, mit denen Sie über deren eigene Vorstellung von Heimat gesprochen haben. Welches Treffen ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?Heimat ist ein super Thema, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Am meisten hat mich ein Treffen mit einem Mönch beeindruckt, der in einem Kloster in der Stadt Meschede im Sauerland lebt. Bruder Andreas ist 86 Jahre alt und musste nach dem Krieg seine niederschlesische Heimat verlassen. Das hat er im Grunde nie verwunden, deshalb ist er auch ins Kloster gegangen.
Seit 60 Jahren lebt Bruder Andreas dort, und doch ist es nie seine Heimat oder sein Zuhause geworden. Er ist bereit für die ewige Heimat und sagte zu mir: „Wenn mir heute jemand sagt, morgen wirst du sterben, dann würde ich antworten, warum nicht heute." Er sprach das mit so einer Klarheit und Heiterkeit, die mich sehr beeindruckt hat.
Kann man Heimat aber nicht auch an einem neuen Ort finden?Doch. Am aufschlussreichsten war bei meiner Reise eine Begegnung in Walternienburg, einem kleinen Dorf an der Elbe in Sachsen-Anhalt. Da kam ich mit dem Vorsitzenden des Heimatvereins ins Gespräch. Der stammte ursprünglich aus dem heutigen Polen, hatte lange in Westdeutschland gelebt, bevor er nach Walternienburg gezogen ist, weil er als Wassersportler nahe an die Elbe wollte. Und er sagte: „Heimat muss man sich schaffen." Man muss rausgehen, sich mit anderen Leuten verknüpfen. Es ist eigentlich völlig banal, aber mir war das vorher so nicht bewusst.
Auf Ihrer Route kamen Sie durch viele kleine Orte, in denen überwiegend ältere Leute leben, quasi die Zurückgebliebenen. Was bedeutet das für diese Orte?Heimat ist auch ein Verantwortungsraum, also ein Ort, an dem man Aufgaben übernimmt. Ich traf auf eine Frau in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt, die weit über 80 war; sie bepflanzte einen öffentlichen Blumenkasten und sagte, 40 Jahre lang habe das der Geflügelverein gemacht, aber den gebe es nicht mehr. Jetzt hat sie diese Aufgabe übernommen, damit es schön bleibt.
In diesen Orten sind Sie vor allem den Leuten begegnet, die ihr Dorf nie verlassen haben. Sehen Sie so eine Lebensweise mit Skepsis?Ich finde, es ist wichtig, zumindest für eine Zeit woanders hinzugehen. Umgekehrt lernt man die Heimat aus der Fremde schätzen. Wenn man wie ich in einem Ort wie Hohenlimburg aufwächst, dann ist die Eindeutigkeit größer, dass man mal wegsollte. Meine Töchter, deren Heimat Berlin ist, wissen nicht, wieso sie ihre Heimatstadt verlassen sollten.
Eine andere sehr interessante Begegnung hatte ich auf einem Schützenfest im Sauerland. Es ging hoch her, aber mir gelang es dann doch, ein Gespräch mit dem Vereinsvorsitzenden zu führen, und der sagte: „Wir haben 198 Menschen hier und mehr Kühe als Menschen, aber die Gemeinschaft und der Zusammenhalt sind toll."
Ich habe ihn darauf angesprochen, dass diese Nähe auch schnell Enge bedeuten kann, und er sagte: „Ja, das ist so. Um in dem Dorf leben zu können, braucht man ein breites Kreuz." Das war für mich plötzlich eine andere Perspektive. Als ich damals mit 21 aus der Kleinstadt ins ferne Berlin gezogen bin, dachte ich immer, ich sei der mit dem breiten Kreuz. Aber der Mann hatte Recht. Sich in so einer überschaubaren Gemeinschaft zu entwickeln und seinen Weg zu gehen, dazu braucht man ein dickes Fell.
Sie sind vom Osten, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, in den Westen Deutschlands gelaufen. Haben die Menschen in den beiden Landeshälften unterschiedliche Auffassungen von Heimat?Mit den Menschen im Osten kam ich gerne ins Gespräch, weil sie einen anderen Erfahrungshintergrund haben. Schnell ging es dann auch nach 25 Jahren um die Wende, die gerade bei den älteren Leuten als ein großer Bruch erlebt wurde. Viele Lebensleistungen wurden in Frage gestellt oder von westdeutscher Seite gleich komplett entwertet. Und mit den vertrauten Strukturen, ob man das System jetzt mochte oder nicht, ging immens viel Orientierung, Halt und Geborgenheit und damit eben auch das Gefühl von Heimat verloren.
Und nachdem sie sich quasi als Migranten im eigenen Land meist mühsam in das für sie neue System der Bundesrepublik hineingearbeitet haben, ist ihr heimatliches Selbstverständnis häufig um einiges fragiler als in den alten Bundesländern. Und wer sich seiner Heimat selbst nicht sicher ist, reagiert meist - mal allgemein und vorsichtig ausgedrückt - reservierter auf neue Entwicklungen, auch auf solche, die die Flüchtlinge mit sich bringen.
Hat sich Ihr Heimatgefühl nach der Reise verändert?Ich bin jetzt dabei, mir in Berlin meine Heimat zu schaffen. Vorher habe ich eher oberflächlich gelebt; seit ich wieder dort bin, gehe ich die Sache bewusster an. Ich interessiere mich für lokale Probleme, vernetze mich mehr mit der Umgebung. Meine letzten Recherchen waren in Südsudan und Nigeria, jetzt beschäftige ich mich mit einem Mann, der sich seit 14 Jahren dafür einsetzt, die Spree, die hinter unserem Haus fließt, so sauber zu kriegen, dass man dort schwimmen kann. Das ist auch ein Heimatbekenntnis.
Und wie sind Ihre Gefühle für Hohenlimburg?Ich dachte vor meiner Wanderung, dass danach dieses Hohenlimburg-Ding erledigt sei, quasi wie eine Pilgerreise. Man hat das gemacht und ist dann von diesem Gedanken der Heimat erlöst. Als ich in Hohenlimburg ankam, war mir vorher schon klar, dass ich da nicht mehr hinziehen werde. Als ich aber mit dem Zug zurückgefahren bin und dieser in Berlin einfuhr, dachte ich mir: Es war ja doch schön, da fahre ich bald mal wieder hin. Den Ort werde ich nicht mehr los.
Jörn Klare, „Nach Hause gehen. Eine Heimatsuche". Ullstein Verlag, Berlin 2016. 240 Seiten, 20 Euro.Original