Wer kann, verlässt Afghanistan. Gerade Frauen müssen dort um ihr Recht auf Bildung, körperliche Unversehrtheit und ein Leben in Freiheit fürchten. "37°" begleitet eine Politikerin, eine Anwältin und eine deutsche Aktivistin bei ihrem Kampf um "ihr" Afghanistan.
Geprägt durch mutige Eltern
Mehria L. (33) kam im Alter von einem Jahr mit ihrem Vater Aman, einem Flugzeugingenieur, und ihrer Mutter Bahria, einer Literaturwissenschaftlerin, nach Hamburg. Die Mutter schlug sich als Schneiderin durch, der Vater fährt heute noch Taxi, arbeitet auch als Gerichtsdolmetscher. Wie hat das Erbe der Eltern Mehria geprägt? Mit ihren 33 Jahren ist sie nicht nur erfolgreiche Strafrechtsanwältin und Dozentin an der Hamburger Uni, sie hat auch die "Refugee Law Clinic" mitgegründet, die Flüchtlinge unterstützt. Wo würde sie heute stehen, wenn ihre Eltern den mutigen Schritt damals nicht gegangen wären? Seit der Machtübernahme der Taliban setzt sich Mehria unermüdlich und unerschrocken für Menschen ein, die in Todesangst das Land verlassen wollen. Die Verantwortung ist riesig. Ihren Freund Asib M. und seine Verlobte Rohena konnte sie unterstützen. Der afghanischen Juristin und dem Kasseler haben am Kabuler Flughafen nicht nur Mehria, sondern auch Asibs SPD-Parteibuch zur Ausreise verholfen. Wie geht es der jungen Afghanin mit der Aussicht, ihre Heimat voraussichtlich nie wieder zu sehen? Wie sehr und wie schnell hat sich die Situation der afghanischen Frauen in den wenigen Tagen schon verändert? Und Mehria? "Seit ich denken kann, lebe ich mit der Angst vor schlechten Nachrichten aus der alten Heimat. Einem Bombenanschlag, einem Selbstmordattentat." Was treibt die junge Frau an, sich so zu engagieren?
Ein personifiziertes Feindbild für die Taliban
Welchen Preis hat die Freiheit für Zarifa G.? Ende August 2021 ist die 29-Jährige nach Deutschland gekommen. Die Taliban haben sie und ihre Familie bedroht, sie waren in Lebensgefahr. Unter der Herrschaft der Taliban hat sie ihre Kindheit verbracht, erst mit zwölf Jahren konnte sie die Schule besuchen. Als junge Bürgermeisterin in Afghanistan musste sie sich ihren Amtseintritt unter Einsatz ihres Lebens erkämpfen. Im vergangenen Jahr wurde ihr Vater ermordet. Das US-Außenministerium ehrte sie im März 2020 mit dem "International Women of Courage Award". Als emanzipierte Frau ist Zarifa das personifizierte Feindbild der Taliban. Nun hat sie alles hinter sich gelassen. Und gerade erst sicheren Boden bei ihrer Tante in Hilden gefunden. "Ich habe einen Schmerz in meinem Herzen, für den es keine Worte gibt", so beschreibt sie das Gefühl nach ihrer Flucht. Woher bezieht sie die Kraft, selbst unter solchen Bedingungen für die Rechte der Frauen zu kämpfen, und wie sieht ihre Zukunft aus? Die afghanische Erde, die sie nach Deutschland mitgenommen hat, will sie in ihr Land zurückbringen - so schnell wie möglich.
Sorge um die Zurückgebliebenen
Gerade hat Marga F. dem Auswärtigen Amt die Liste mit den Namen der 35 Menschen zugeschickt, die dringend aus Afghanistan ausreisen wollen. Sie arbeiten für ihre Organisation Afghanistan-Schulen und hoffen jetzt auf ein Visum. Sie hat viele Kontakte in Afghanistan, die jetzt vielleicht helfen. Ihr Leben hat Marga der Bildung afghanischer Kinder verschrieben, seit sie sich in das Land am Hindukusch verliebte. 75.000 Kinder werden in staatlichen Schulen unterrichtet, die ihr Verein in Zusammenarbeit mit verschiedenen Bundesministerien gebaut hat. "Viele Menschen in Deutschland denken, es sind nur die Frauen in den Städten, die ein modernes Leben geführt haben. Aber unsere Projekte in den kleineren Städten, die abgelegen in der Steppe liegen, umgeben von Dörfern, zeigen, dass auch dort junge Frauen studieren und Geld verdienen wollen. Sie wollen teilhaben an der Welt. Sie wollen nicht abgeschottet leben wie einst im Mittelalter." Mit solchen Sätzen versucht sie, sich auch selbst ein wenig Mut zu machen. Denn gerade steht ihr Lebenswerk vor der Zerstörung - und die Zukunft ihrer Schützlinge in Afghanistan auf dem Spiel. Lassen die Taliban über ein Fortbestehen der Schulen mit sich verhandeln? Aus ihrem Haus in Oststeinbek in Schleswig-Holstein versucht sie, die Geschicke zu steuern. Dabei setzt sie auch auf die Unterstützung durch einen ehemaligen Schüler, Mardan R., aus Koblenz. 35 Menschen und ihre Familien, die in Afghanistan um ihr Leben fürchten müssen, haben ihn, ihren früheren Kollegen, als Kontaktperson angegeben. Was können er und Marga F. für sie tun? Die Tage seit der Machtergreifung der Taliban sind voller Trauer, Aufregung und Selbstzweifel - aber Marga ist fest entschlossen, die Menschen nicht hängen zu lassen, die in Afghanistan auf sie zählen. Sie will sie retten.
"37°" ist in dieser angespannten und hoch emotionalen Situation mittendrin. Die Zuschauer bekommen einen Einblick in die aktuelle Situation Afghanistans und die Gemütslage einiger engagierter Frauen, die für ein Recht auf Freiheit und persönliche Entfaltung kämpfen. Die Zuschauer erleben, wie wenig selbstverständlich die bei uns garantierten Grundrechte in anderen Teilen der Welt sind und wie hoch der Preis der Freiheit sein kann.
37 Grad-Autorinnen über "Mutig, stark und frei"
I. Thiede, H. Schröder und U. Beyer über die Dreharbeiten
Afghanistan war bis zu den Dreharbeiten für diesen 37° Film für uns hauptsächlich ein Land der schrecklichen Nachrichten, die alle die gleiche Geschichte erzählen: Von unendlichem Leid, von Angst und Schrecken, von Terror und Krieg. So überstürzt, wie das Land am Hindukusch am 15. August in die Hand der Taliban gefallen war, machten wir uns nur wenige Tage danach auf die Suche nach geeigneten Protagonistinnen, die uns vor allem die Frauen in Afghanistan nahebringen können. Viele, die hierzulande für die Freiheit der afghanischen Frauen kämpfen, mochten keine Sekunde ihrer wertvollen Zeit für Dreharbeiten opfern. Hier ging es darum, im letzten Moment vielleicht noch Verwandte, Freunde oder Mitarbeiter vor den Taliban zu retten. Da störten wir nur. Den Druck und die enorme Anspannung spürten wir in allen Gesprächen und Momenten mit jenen drei Frauen, die wir schließlich begleiten durften.
Zarifa Ghafari war erst wenige Tage vor Beginn unserer Dreharbeiten sicher in Deutschland gelandet. Die ehemals jüngste Bürgermeisterin Afghanistans und damit die prominenteste unserer Protagonistinnen empfängt uns zwischen vielen anderen Medienterminen. Zarifa nutzt jetzt die Medien, um für ihr Land und die Frauen zu kämpfen. Am Tag als die Taliban den Abzug der letzten US-Soldaten feiern, erleben wir sie tieftraurig und erschüttert, kurz danach ist die junge Frau wieder kämpferisch und optimistisch. An Marga Flader beeindruckt am meisten, wieviel man von einem kleinen Dorf nördlich von Hamburg aus bewegen kann - ohne großen Verwaltungsapparat und Riesennetzwerk. Wie sie, ist auch Mehria Ashuftah-Lührig in diesen Tagen ruhelos und getrieben. Die deutsch-afghanische Anwältin rotiert seit der Machtübernahme durch die Taliban, versucht vor allem Bekannten und Verwandten, die in Kabul festsitzen, zu helfen - eine Aufgabe, der sie sich nach wie vor mit aller Kraft in ihrer freien Zeit und bis zur totalen Erschöpfung widmet. Und das macht die Dreharbeiten auch tatsächlich schwierig: das Handy klingelt den ganzen Tag, ständig kommen neue Nachrichten rein: gibt es jetzt vielleicht doch die Chance, noch jemanden in einen Flieger zu kriegen?
Es war sehr berührend, mit zu bekommen, welche Gefühls-Achterbahnen nicht nur unsere Protagonistinnen, sondern auch ihre Familie erleben. Den einen Tag konnte ein Cousin sich doch noch über Katar in die USA retten, da gab es riesige Freude. Den nächsten Tag war klar, dass eine Verwandte nicht in ihren Job zurück kann. Unklar ist, wovon soll sie jetzt leben? Dann stellt sich die Frage: wie kann den Verwandten Geld gesendet werden? Wer spendet eventuell? Am meisten berührt hat uns drei Autorinnen, wie sehr die Menschen, die sich hier um ihre Angehörigen und Freunde in Afghanistan sorgen, mit dem Gefühl der Ohnmacht kämpfen. Und mit der Wut darauf und der Enttäuschung und Fassungslosigkeit darüber, dass sich die internationale Gemeinschaft und eben auch Deutschland einfach aus der Verantwortung für Afghanistan zurückgezogen haben - und damit viele Menschen vor Ort im Stich lassen.