Lev Rosenberg, 69, führt ein ganz normales Leben. Er ist Rentner, Vater, Großvater. Er spielt Schach, er reist, ist Ehrenamtler. Aber es gibt eine Sache, sagt er, die bereitet ihm Sorgen: Rosenberg ist Jude.
Er hat da dieses Gefühl, sagt Lev Rosenberg. Irgendwo im Bauch, vielleicht auch im Kopf, wer weiß das schon. Angst ist das nicht, glaubt er. Zumindest nicht um ihn, aber um seine Kinder. „Es ist wie eine Sorge, eine latente Befürchtung", sagt er. Etwas, das sich eingeschlichen hat, vor Wochen oder Monaten, so wie ein Leberfleck, der irgendwann plötzlich da ist und unkontrolliert wächst. Und dann, sagt Rosenberg, war da der 9. Oktober. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen starben. „Seitdem ist es eigentlich immer da, das Gefühl, nie richtig weg."
Lev Rosenberg, 69, führt ein ganz normales Leben. Er ist Rentner, Vater, Großvater. Seit vielen Jahren ist er Witwer, aber er träumt davon, sich noch mal zu verlieben. Er spielt Schach, geht reisen, besucht einsame Menschen im Altersheim. Alles nicht weiter ungewöhnlich also, wäre da nicht die Sache mit der Religion. Lev Rosenberg ist Jude. Und obwohl er nicht mal gläubig ist, sagt er, muss er sich deshalb sorgen.
Ein Morgen im Oktober, Treffen am Bremer Hauptbahnhof. Rosenberg schlurft über den Bahnsteig, die Hände tief in den Taschen vergraben. Ein kleiner, grauhaariger Mann in großer, brauner Lederjacke. Kurze Begrüßung, dann einsteigen in den Zug. „Jüdische Themen sind meist traurige Themen, oder?", fragt er und nimmt Platz. Gemeinsam geht es nach Bremerhaven, dorthin, wo eine Wanderausstellung gerade an die Schicksale deutsch-jüdischer Spitzensportler während der NS-Zeit erinnert.
„Wir dürfen das nicht vergessen"Sich zu erinnern spielt im Leben von Lev Rosenberg eine wichtige Rolle. Er hat die Verbrechen an den Juden nicht selbst miterlebt, aber er hat Freunde, Verwandte, Bekannte, die es erlebt haben, sagt er. Er fürchtet, dass sich die Deutschen nicht mehr für die Geschichte interessieren. Dass sich bald niemand mehr an die Gräueltaten aus der Nazi-Zeit erinnert - vor allem die junge Generation nicht. Selbst seine eigenen Kinder, 34 und 39, fragen nur wenig nach, sagt er. „Wir dürfen das nicht vergessen. Das Erinnern an damals ist doch wichtig für uns alle, für unsere Zukunft."
Eine Stunde später steht er mittendrin im Damals. Zurück im Jahr 1933, als sich das Leben deutsch-jüdischer Sportler schlagartig änderte. 17 von ihnen sind als überlebensgroße Silhouetten über den Havenplatz verteilt. Einst waren sie Ringer, Fußball- und Basketballspieler, Boxer, Tennisprofis, Fechter und mehr, sie waren Nationalspieler, Welt- und Europameister, Olympiasieger und Rekordhalter. Dann kamen die Nazis. Und mit ihnen Angst und Verfolgung.
Es sind Menschen wie Lilli Henoch, 1888 in Königsberg geboren, Leichtathletin, Hockey- und Handballspielerin. Zwischen 1922 und 1926 errang sie zehnmal den Titel der deutschen Meisterin - im Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung und in der 4x100-Meter-Staffel. Eine Ausnahmesportlerin, die vier Weltrekorde aufstellte und nebenbei noch zur damaligen Elite der deutschen Hockey- und Handballspielerinnen gehörte. Als die Nazis die Macht ergriffen, spielte das plötzlich keine Rolle mehr. Erst schlossen sie Henoch aus dem Sportklub aus. Dann wurde die Sportlerin verfolgt, deportiert und ermordet.
Die Leiden des Emanuel LaskerLev Rosenberg kennt Geschichten wie diese. Aber so nah dran zu sein, sagt er, sie überlebensgroß zu sehen, ist auch für ihn nicht leicht. Er bleibt bei allen Sportlern stehen, schaut, liest, seufzt, geht schweigend weiter. Bei einer Silhouette bleibt er länger. Sie zeigt Emanuel Lasker.
Unter Schachfreunden gilt Lasker bis heute als größter Spieler aller Zeiten. 1868 im heutigen Polen geboren, wurde er mit 25 Jahren zum ersten Mal Weltmeister. Über 27 Jahre - so lange wie niemand vor und niemand nach ihm - verteidigte Lasker die WM-Krone, ließ eine ganze Generation von Schachmeistern verzweifeln. Solange, bis ihn die Nazis aus Deutschland vertrieben.
Emanuel Lasker liebte den Sport, das Grübeln über den richtigen Zug. Genauso wie Lev Rosenberg. Auch er spielt Schach, schon fast sein ganzes Leben, sagt er, „viele Juden tun das." Er ist im Makkabi-Verein, dem Bremer Ableger des deutsch-jüdischen Turn- und Sportverbands. In Bremen ist Rosenberg einer der Gründer und Vorstandsmitglied. Gelernt aber, sagt er, hat er das Schachspielen in Moldawien, seinem Heimatland. Dort ist Rosenberg geboren, hat erst als studierter Elektroingenieur, dann lange in der Politik und als Journalist gearbeitet. Als Anfang der 1990er-Jahre der Bürgerkrieg ausbrach, beschloss er, mit seiner Familie nach Deutschland zu gehen. 1995 kamen sie in Bremen an.
Seitdem ist Rosenberg hier eines von 900 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Es ist die jüdische Tradition, sagt er, die ihm wichtig ist. Das Beisammensein. „Ich glaube vielleicht nicht an Gott. Aber ich glaube an die Gemeinschaft."
„Die Ausgrenzung kommt schleichend"Es ist ein lauer Vormittag, der Himmel ist blau-grau, die Sonne kommt raus. Vereinzelt schlendern Menschen die Weser entlang, darunter Ältere, aber auch Familien mit Kindern. Sie passieren auch den Havenplatz, direkt am futuristischen Bau des Klimahauses gelegen. Sie gehen vorbei an Lilli Henoch, Emanuel Lasker und den anderen Silhouetten. Nur wenige bleiben stehen oder blicken auf. „Vielleicht kommen ja am Wochenende mehr Menschen, die das sehen?", fragt Rosenberg.
Da ist es wieder, das Gefühl. Die Sorge, dass sich die Geschichte irgendwann wiederholen könnte, sagt Rosenberg. Die Sorge um seine Tochter, den Sohn und den Enkel. „Wie sollen sie ein gutes Leben haben, wenn der Antisemitismus in Deutschland stärker wird?"
Er fühlt sich sicher in Bremen, sagt Rosenberg. „Bremen ist freundlich, ich hatte hier als Jude nie Probleme." Aber er würde gehen, wenn es schlimmer wird. Vielleicht nach England, sagt er, genau hat er das nicht geplant. „Die Ausgrenzung kommt schleichend. Ich kann das nicht beweisen, aber ich fühle es eben."
Und er sieht es, zuletzt auf dem Weg zum Bahnhof: Ein Hakenkreuz, an die Wand der Bushaltestelle gemalt. Für manche eine kleine Schmiererei. Für Rosenberg ein Alarmzeichen. Er will sich auch weiterhin sicher fühlen können, sagt er. „Wir brauchen mehr Ausstellungen, mehr Vorträge, mehr Gespräche." Nur so kann er es wieder loswerden. Das Gefühl, das irgendwo im Bauch steckt, vielleicht auch im Kopf. Das Gefühl, das Sorge ist, Befürchtung. Und auch ein bisschen Angst.
Zur SacheGemobbt, verfolgt, ermordet: Als die Nazis 1933 die Macht ergriffen, wurden deutsch-jüdische Spitzensportler aus ihren Vereinen und Mannschaften ausgeschlossen. Errungene Titel wurden aberkannt, etliche Sportler wurden verfolgt und in Konzentrationslager deportiert. Nur wenige konnten fliehen, nur wenige überlebten. „Zwischen Erfolg und Verfolgung, jüdische Stars im deutschen Sport bis 1933 und danach" lautet der Titel einer Wanderausstellung, die noch bis zum 10. November auf dem Havenplatz in Bremerhaven zu sehen ist. 17 überlebensgroße Stolpersteine setzen den Erfolgen und Schicksalen jüdischer Sportler ein unübersehbares Denkmal. Im Jahr 2015 zum ersten Mal in Berlin ausgestellt, wurde die Schau von der Kulturstiftung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien konzipiert und finanziert. Aus Bremen unterstützt Sportsenatorin Anja Stahmann (Grüne) die Schau. Der Eintritt ist frei.
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