Lange war Poledance eine Sache für Sexklubs. Heute ist der Tanz an der Stange ein anerkannter Sport. Von seinem Rotlicht-Image kann er sich trotzdem nicht befreien. Warum?
Da ist er, der Goldjunge. Als Fabian Hambüchen bei Olympia 2016 Gold am Reck holt, wird er gefeiert wie ein Held. Überragende Leistung, heißt es damals, und diese Körperbeherrschung! Wer als Sportler um horizontale Stangen kreist, wird gesellschaftlich akzeptiert. Was aber, wenn die Stange stattdessen gen Himmel ragt? Wenn die Bewegungen erotischer sind, die Sportkleidung kürzer und das Ganze Poledance heißt? Ist das dann Sport? Oder doch eher so was wie Striptanz?
Die Diskussion ist nicht neu. Das beobachtet auch Martin Schweer, Professor an der Universität Vechta. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Stereotype und Vorurteile im Sport. Bei dem Gedanken an Poledance öffne sich bei vielen direkt eine Schublade, sagt er. Eine, in die alles reingehöre, über das nicht gern gesprochen wird. Verruchte Rotlicht-Bars. Leicht bekleidete Frauen, die sich für dickbäuchige Biertrinker lasziv um die Stange rekeln. Poledance - das sei für viele verbunden mit Tabledance und Striptease.
Zwei, die das ändern wollen, sind Clarissa Karthäuser und Christine Heise. Für Karthäuser, 27, und Heise, 32, ist Poledance nicht nur schön und sexy, sondern ein ernst zu nehmender Sport. Vor zwei und fünf Jahren haben sie im Bremer Studio „Pole Sports" als Mitglied angefangen. Mittlerweile sind sie dort selber Trainerinnen. Die Nachfrage in Bremen ist groß, sagen sie. Für die Kurse gebe es regelmäßig Aufnahmestopps.
Ein Abend im Herbst, Treffen bei „Pole Sports" in der Neustadt. Karthäuser und Heise haben eingeladen, einen der Kurse zu besuchen, auch die Teilnehmerinnen sind einverstanden. „Nur wer mal zuschaut und mitmacht, versteht, warum das mit dem Stripperinnen-Image Quatsch ist", sagt Heise. 2009 gegründet, ist „Pole Sports" eines von zwei Studios, die den Tanzsport in Bremen im Kursangebot hat. In dem spiegelverglasten Trainingsraum sitzen sechs junge Frauen zwischen silberglänzenden Stangen. Letztere sind erst mal nur Nebensache. Es geht auf die Yoga-Matte, Warm-up zu Popmusik: Füße und Hände kreisen, Schultern lockern, Glieder dehnen. Heise macht die Übungen vor. Eine halbe Stunde lang läuft alles ziemlich harmlos. Dann kommt die Stange ins Spiel - und die Gedanken fangen an zu kreisen.
Bezug zum StrippenGanz abwegig ist der Bezug zum Strippen nicht. Bis vor ein paar Jahren war der Stangentanz vor allem in Sexklubs bekannt. Die Rotlichtszene hatte den aus der asiatischen Akrobatik stammenden Tanz kopiert und vermarktet. In den Achtzigerjahren schafft Poledance den Sprung in die deutschen Fitnessstudios. Das Sexklub-Image haftet ihm bis heute an wie Kaugummi.
Ein Grund dafür ist offensichtlich: Die Frauen haben wenig an. Untenrum tragen sie Höschen, obenrum Top oder Bustier. Wenig Stoff auf der Haut bietet viel Stoff für Kommentare und Blicke. Anschauen, abchecken, beurteilen, verurteilen. Dabei sei der Grund für das knappe Outfit denkbar einfach, sagt Heise: „Stoff und Stange vertragen sich nicht." Rutschen die Tänzerinnen aus mehreren Metern Höhe ab, drohen ernsthafte Verletzungen. Nackte Haut gebe ihnen Halt.
Karthäuser hat für heute eine Choreografie vorbereitet. Das Lied, zu dem sie tanzt, heißt Rise. „Es handelt davon, über sich selbst hinauszuwachsen", sagt sie. Karthäuser umgreift die Stange, macht einen Schritt nach vorne, holt mit dem äußeren Bein Schwung und umkurvt schwebend die Pole. Immer und immer wieder dreht sie sich, von oben nach unten, die Arme kreisen durch die Luft. Die anderen schauen zu. „Ey, wie macht die das schon wieder?", flüstert jemand. Dann Stopp. „Nun ihr!", ruft Karthäuser.
Wenn Karthäuser und Heise um die Stange schwingen, dann sieht das ziemlich leicht aus. Kinderleicht. Ein bisschen Drehen hier, ein bisschen Drehen da. Aber der Weg dahin ist hart. Um sich an der Stange zu halten, braucht es Kraft, Ausdauer und Flexibilität. „Pole ist eigentlich das perfekte Work-out", sagt Heise. Bei der Kombination aus Tanz und Akrobatik werden alle Körperpartien beansprucht. Wie Gewichtheben, Joggen und Tanzen gleichzeitig. „Am Anfang ackert man sich ab. Alles tut höllisch weh, zieht und ziept. Aber irgendwann wird es leichter." Und klar, sagt Karthäuser, soll der Stangentanz auch ästhetisch aussehen, fließend. Auch sinnlich und sexy darf er sein. „Die Sache ist nur die: Wir tanzen hier nicht für Männer oder so. Wir tanzen für uns."
Beide trainieren fast jeden Tag, schauen Poledance-Videos, gehen zu Weiterbildungen. Nach dem Kurs wird sie noch ihre Sachen packen müssen, sagt Karthäuser, für sie geht es nach Italien. Poledance-Camp bei sommerlichen Temperaturen, „quasi Urlaub an der Stange". Karthäuser will dort neue Figuren lernen, sagt sie. Ideen für ihre Kurse und Wettkämpfe sammeln. Denn auch das gibt es: Meisterschaften im Poledance. Ein Sportevent, bei dem sich Frauen und Männer an der Stange messen. Die Teilnehmer, sagt Karthäuser, bekommen zur Vorbereitung ein Thema genannt. Sie suchen Musik aus, üben Figuren, Drehungen ein. Ziel ist es, die Choreografie authentisch umzusetzen. Die Körperform, sagt sie, spielt dafür keine Rolle.
Wer Pole tanzt, muss nicht dünn sein. Sie selber habe früher manchmal gehadert, sagt Karthäuser. Mit ihrer weiblichen Figur, mit den Kurven. Beim Poledance verschafft ihr das einen entscheidenden Vorteil: Sie ist stark, sie kann sich länger an der Stange halten als andere. Für sie ist Poledance zu einer Ausdrucksform geworden, einer Sprache, sagt sie. Sie habe gelernt, sich anders zu bewegen, sich wahrzunehmen. Also wie Yoga an der Stange? „Ein bisschen vielleicht", sagt Karthäuser. „Im Prinzip ist das so: Je mehr ich mich an der Stange verbiege, desto mehr lerne ich, das im Alltag nicht zu tun. Ich kann besser abschalten, fühle mich wohler in meinem Körper. Ich weiß jetzt: Jeder, aber wirklich jeder Mensch darf an der Stange tanzen. Egal, welches Geschlecht, welche Figur, welcher Beruf."
Gegen gängige KlischeesDas mit dem Beruf ist nämlich so eine Sache. Karthäuser promoviert in Meeresbiologie, hat eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Bremer Forschungsinstitut. Eine Wissenschaftlerin, die an der Stange tanzt? „Klar, geht für viele erst mal nicht zusammen", sagt Karthäuser. Ob sie das ärgert? Im Gegenteil. Ihr gefällt es, anzuecken, sagt sie, nicht in das Muster zu passen. „Ist doch super, um gängige Klischees aufzubrechen." Mit ihrem Sport geht sie deshalb offen um, zeigt Freunden und Bekannten Videos. Auch die Kollegen wissen davon. Die finden das ziemlich lässig.
Heise, Diabetesberaterin aus Schwanewede, ist das lange schwergefallen. Ihr Hobby hat sie die erste Zeit verheimlicht, sagt sie. „Ich fand das irgendwie unangenehm. Keine Ahnung. Ich wollte nicht, dass Leute etwas Falsches über mich denken", sagt sie. Dabeigeblieben ist sie trotzdem. „Nach meinem ersten Training hatte ich einen Todesmuskelkater und überall blaue Flecken." Die Anstrengung, sagt sie, habe sie angefixt. „Ich war komplett kaputt, aber glücklich. Ich wusste: Genau das Work-out will ich."
In wenigen Minuten endet der Kurs. „Gestrippt wurde immer noch nicht", scherzt Heise. Stattdessen hängen acht Körper kopfüber und verknotet an der Stange, die rotverschwitzten Köpfe sind zur Spiegelwand gerichtet. Wenn sie sich so anschaut, sagt Karthäuser, im Spiegel, halb nackt, dann sieht sie eine, die Kraft hat, Ausdauer. Eine, die sich an der Stange halten kann, die beweglich ist. Eine Sportlerin. Warum also, fragt sie, sehen das immer noch so viele anders? Karthäuser und Heise sind optimistisch, dass sich das ändert, irgendwann. Vorurteile, finden sie, schafft man, indem man Dinge verschweigt. Deswegen tanzen sie, sind laut. Vermutlich werden sie Ausdauer brauchen. Aber sie wollen bei der Stange bleiben.
Zur SacheTanz mit Tradition
Poledance gibt es schon seit Tausenden von Jahren. Er taucht in der griechischen Mythologie auf und ist in Indien als „Mallakhamb", dem Tanz an der Holzstange, bekannt. Viele der modernen Poledance-Elemente sind außerdem inspiriert von der traditionellen chinesischen Stangenartistik. Übrigens: Dort sind es überwiegend Männer, die an der Stange tanzen.
In Deutschland wird Poledance immer beliebter. Genaue Zahlen gibt es jedoch nicht. Denn Poledance wird nicht in Vereinen betrieben, sondern in privaten Studios oder Fitnessstudios. Das ist auch der Grund, warum Poledance vom Deutschen Olympischen Sportbund noch nicht als Sport anerkannt wurde. Genau dafür setzt sich nämlich die International Sports Federation seit vielen Jahren ein: Sie wollen, dass Poledance zur olympischen Disziplin wird.
Original