Daniela Buchholz und Lars Gerhardt sind Eltern einer Tochter mit Down-Syndrom. Die ist kürzlich in eine inklusive WG gezogen. Wie war das? Ein Gespräch über Inklusionsweisheiten, Hürden und Abschiedsschmerz.
Ende September 2019 ist Ihre Tochter und Ziehtocher Neele in eine inklusive WG in der Überseestadt gezogen, lebt dort seitdem mit sieben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Können Sie sich noch an den Umzugstag erinnern?
Daniela Buchholz: Der war aufregend. Zwischen der Idee und dem Einzug liegen fast sechs Jahre. Endlich ging´s los, wir waren alle voller Adrenalin. Über das Danach haben wir uns wenig Gedanken gemacht. Als wir am Abend den Wohnungsschlüssel abgegeben und uns verabschiedet haben, war das schon komisch. Richtig realisiert, was das bedeutet, haben wir erst später.
Wann?Daniela Buchholz: Als Neele das erste Mal nicht zum Frühstück gekommen ist. Wir haben total gerne mit Neele zusammengewohnt. Neele hat noch einen Bruder, Leon, vier Jahre jünger, mit 19 von zuhause ausgezogen. Unser Verhältnis ist genauso gut. Aber Neele brauchte mich ganz anders. Wenn man ein behindertes Kind hat, fällt es schwerer, loszulassen.
Gab es Momente, die besonders schwer waren?Daniela Buchholz: Die ganze Anfangszeit war schwer. Unser Badezimmer liegt direkt neben Neeles altem Zimmer, wir müssen dort oft vorbei. Am Anfang stand die Tür noch offen. Irgendwann habe ich sie zugemacht. Ich wollte nicht ständig sehen, dass Neele nicht mehr da ist.
Seit ihrem Auszug sind knapp neun Monate vergangen. Kommt sie oft zu Besuch?Daniela Buchholz: Wir dachten, dass sie häufiger kommt.
Lars Gehrhardt: Zuerst meinte Neele, sie kommt ein Mal in der Woche. Irgendwann wurde daraus ein Mal im Monat.
Daniela Buchholz: Letztendlich war sie Weihnachten das erste Mal da. Also fast drei Monate nach Einzug in die WG.
Wie war das für Sie?Daniela Buchholz: Es ist ein Zeichen dafür, dass es ihr dort gut geht. Dass sie sich wohlfühlt. Das ist uns wichtig. Aber vom Gefühl her könnte sie schon häufiger kommen.
Weniger Zeit für Neele heißt auch: Mehr Zeit für Sie.Daiela Buchholz: Das ist die zweite Seite. Die Zeit vor dem Umzug habe ich auch oft gedacht: Es reicht jetzt. Ich war 28 Jahre auf Stand-by, habe gekocht, mich gekümmert. Jetzt kann ich mir Termine so legen, wie es mir passt, muss nicht immer auf die Uhr gucken. Das bedeutet auch Erleichterung.
Wie ist die Idee einer inklusiven WG entstanden?Daniela Buchholz: Ich habe einen Bericht über eine inklusive WG in Ludwigshafen gesehen. Neele fand das auch gut. Sie war schon immer inklusiv unterwegs. Für uns war das die logische Konsequenz.
Für Planung, Gründung eines Vereins und Umsetzung haben Sie sechs Jahre gebraucht. Im Schnelldurchlauf: Was ist in dieser Zeit passiert?Daniela Buchholz: Wir haben Neele gefragt, mit wem sie zusammen wohnen will. So ist Sarah-Lea, eine ihrer heutigen Mitbewohnerinnen, dazugestoßen. Dann haben wir nach einem passenden Haus gesucht. Am liebstem im Viertel, haben wir gedacht, mittendrin im Leben. Aber es war unmöglich, dort etwas zu finden.
Lars Gehrhardt: Vieles war nicht groß genug für acht Bewohner, nicht barrierefrei. Die Bewohner mit Behinderung sollen dort, wenn sie möchten, lebenslang wohnen können.
Und dann?Lars Gehrhardt: Wir haben uns an verschiedene Träger der Behindertenhilfe gewandt. Mit denen sind wir uns aber nicht einig geworden. Wir sind dann auf das Blauhaus in der Überseestadt aufmerksam geworden, ein alternatives Wohnprojekt, das da gerade in der Planung war. Durch einen Kontakt zum Architekten hat sich ergeben, dass wir dort eine der Wohnungen für die Bedürfnisse der WG entwickeln konnten.
WG´s wie diese gibt es in Deutschland nach Schätzungen bisher nur knapp 50.Lars Gerhardt: Inklusives Wohnen ist für den Träger viel teurer und aufwendiger. Genauso ist es beim Anbieten von Arbeit. Inklusion lohnt sich nicht, wenn man nur auf die Zahlen schaut.
Inklusion: Was bedeutet das für Sie?Lars Gehrhardt: Teilhabe. Sichtbarkeit. Platz schaffen für Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen.
Bremen ist bekannt dafür, Vorreiter in Sachen Inklusion zu sein.Daniela Buchholz: Schon bei Neeles Geburt wurde mir gesagt: In Bremen seid ihr super aufgehoben.
Lars Gehrhardt: In Bremen trifft man tatsächlich häufig auf Menschen mit Behinderung. Sie sind der Innenstadt sichtbar, in der Straßenbahn. Bremen ist meines Erachtens nach ein guter Standort, um als Mensch mit Behinderung selbstbestimmt zu leben.
Führt Ihre Tochter ein selbstbestimmtes Leben?Daniela Buchholz: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten schon, ja.
Lars Gehrhardt: Sie braucht Unterstützung dabei, zu formulieren und herauszufinden, was sie möchte. Sie an die Hand zu nehmen, dabei aber nicht zu bevormunden, ist ein Lernprozess, für uns alle. Wir haben die Inklusionsweisheit auch nicht mit Löffeln gegessen. Neele ist die Sprecherin, wir sind der Verstärker.
In den 28 Jahren sind Sie bei den Themen Selbstbestimmung und Teilhabe auch an Grenzen gestoßen.Lars Gehrhardt: Dass Neele nicht in der Behindertenwerkstatt, sondern als professionelle Tänzerin auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt ist, war ein langer Weg. Wir haben da viel für getan. Gleichzeitig zeigt es, dass es Möglichkeiten gibt. Ich habe den Respekt vor Leuten verloren, die sagen: Das geht bei Menschen mit Behinderung nicht. Wenn Neele nicht in die Werkstatt möchte, dann unterschreibt Daniela den dazugehörigen Zettel nicht - auch ohne zu wissen, was die Alternative ist. Beim Wohnen ist es genauso. Natürlich ist Neele keine Prinzessin, die sich alles wünschen darf. Aber man hat als junger Mensch das Recht, andere und eigene Wege zu gehen.
Daniela Buchholz: Oder Sachen auszuprobieren. Zu merken: Nein, das ist doch nichts für mich.
Lars Gehrhardt: Unsere Erfahrung mit Neele ist: Immer wenn man bestehende Strukturen an Menschen mit Behinderung anpassen will, funktioniert das nicht. Es ist einfacher, eigene Strukturen zu schaffen, selbst etwas ins Leben zu rufen.
Daniela Buchholz: Kindergarten, Schule, Arbeit: Das hat alles gut geklappt. Was aber nicht geklappt hat, war alles außerhalb dieser Angebote. Die Eltern fanden das immer ganz toll, dass ihre Kinder in eine Inklusionsklasse oder ein inklusives Tanzangebot gehen. Sobald das aber zu Ende war, war Neele draußen.
Draußen?Daniela Buchholz: Neele wurde zum Beispiel fast nie auf Geburtstage eingeladen. Wenn, dann nur, weil ich mich dahinter geklemmt habe. Dabei ist es total nett, sie dabei zu haben. Die Leute wissen gar nicht, wie geil die Partys mit ihr sind.
Apropos Partys. In der WG hängen einige Bilder rauschender Nächte. Gerade verlassen die ersten Bewohner die WG, neue ziehen ein. Was ist Ihr Eindruck, wie läuft es bisher?Lars Gerhardt: Eine inklusive WG ins Laufen zu bringen, in der niemand unter den Tisch fällt, in der sowohl Studierende als auch Bewohner mit Behinderung zufrieden sind: Das ist schon eine Herausforderung. Bisher läuft es super. In anderen Städten gibt es WG´s, in denen die Studenten innerhalb eines Jahres einmal komplett gewechselt sind.
Daniela Buchholz: Manche Studenten wissen beim Einzug nicht, worauf sie sich da einlassen. Ihnen ist das Zusammenleben zu viel. Die Verantwortung. Es ist völlig okay, das für sich festzustellen.
Lars Gerhardt: Wir möchten nicht, dass sich jemand verpflichtet fühlt, sich um Neele und die anderen Frauen mit Behinderung zu kümmern. Für die Studenten ist das ein Ehrenamt. Uns ist wichtig, dass dort alle gern leben, gern Verantwortung übernehmen. Und dass dort jeder der Bewohner ein Zuhause hat.
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