Es brennt. Erst auf der Zunge, im Rachen, dann ist die Stimmung aufgeheizt. WG-Essen in der Überseestadt Es gibt Pizza, die mag die ganze WG - zumindest eigentlich. „So kann ich das echt nicht essen", sagt Neele Buchholz, spuckt ein Stück zurück auf den Teller. Ihr gegenüber sitzt Giacomo Behrendt, heute WG-Koch, oder auch: Brandstifter. Er hat die Pizza mit scharfer Soße serviert. „War auf der Flasche ein Totenkopf drauf?", fragt Farukh Sauerwein, alle lachen. „Milch hilft gegen scharf", sagt Buchholz, holt eine Packung aus dem Kühlschrank und beginnt mit den Löscharbeiten.
Behrendt, 24, ist der Neue. Vor drei Wochen ist der angehende Ergotherapeut in der Überseestadt bei Buchholz, Sauerwein und fünf weiteren Bewohnern eingezogen. Zuvor hat er hier ein Wochenende zur Probe gewohnt. Das ist Voraussetzung. Denn wer hier leben will, muss reinpassen, sich einbringen wollen. Die WG ist anders als die meisten: Sie ist inklusiv. Hier wohnen acht Menschen zwischen 20 und 32 zusammen, vier von ihnen haben eine Behinderung, vier von ihnen nicht. Tagsüber gehen sie zur Arbeit und Uni, abends wird gekocht, gespielt, gelacht, gestritten. „Also alles stinknormal hier", sagt Behrendt, „nur mit Extras - und manchmal läuft eben nicht alles nach Plan."
Inklusive WGs sind selten. In Bremen gibt es zwei. Deutschlandweit sind es nicht mehr als 50. Das schätzt zumindest Ann-Kathrin Akalin, Sprecherin der Aktion Mensch. Rund 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland laut Statistischem Bundesamt. Viele wohnen zu Hause bei den Eltern oder in Wohnheimen - meist, weil es keine Alternative gibt. Inklusive WGs, so die Idee, ermöglichen ihnen ein selbstbestimmteres Leben. Ein Leben, das auch Neele Buchholz, 28, Rahel Hennemann, 24, Sarah-Lea Binnewies, 32, und Mathilda Hanebuth, 20, wollen.
Drei von ihnen haben das Down-Syndrom, eine ist seit einem Ertrinkungsunfall geistig und körperlich beeinträchtigt. Selbst entscheiden wollen sie trotzdem. Damit das funktioniert, brauchen sie Hilfe. Für die sind pädagogische Fachkräfte, aber auch vier Mitbewohner da.
Heute ist das Behrendt. Der Neue hat Dienst. „Das klingt nach Arbeit", sagt er, „ist es aber nicht, ist ein Ehrenamt." Einmal in der Woche haben die Bewohner sogenannte Tandems. Gemeinsam mit einer der vier Frauen mit Beeinträchtigung kochen sie für die WG, kaufen ein, räumen auf, unterstützen bei allem, was anfällt - auch nachts. Zusätzlich helfen sie einmal im Monat am Wochenende. Dafür wohnen sie mietfrei. „Und guck dir mal an, wie geil wir hier leben", sagt Behrendt.
Er führt durch die WG, eine loftartige Wohnung, 330 Quadratmeter, hohe Betondecken und bodentiefe Fenstern. Eine Wohnküche mit Kochinsel, großem Esstisch, Sofaecke, zwei Balkone mit Blick auf die Weser. Erinnerungen hängen an den Wänden: Bilder gemeinsamer Partys und Ausflüge - die Bewohner Arm in Arm.
Über einen langen Flur geht es in den ruhigen Teil der Wohnung, vorbei an geschlossenen Türen, hinter denen gerade für die Uni gelernt wird, nach ganz hinten, in Behrendts Zimmer. Ein kleiner Raum mit großem Fenster, Matratze auf dem Boden, Schrankwand mit Fernseher, die Wände noch kahl. Behrendt hat nur wenig mitgebracht. Für ihn ist die WG ein Neuanfang. „Ich bin hier eingezogen, weil ich das Konzept mag, weil ich Gemeinschaft brauche und gerne helfe", sagt er. Auch er brauchte mal Hilfe, aber das ist lange her. Behrendt nennt das „früher" und meint eine Zeit, in der er mal auf der Straße schlafen musste. Die vergangenen drei Jahre hat er bei seiner Oma gewohnt, "wollte sie nicht alleine lassen", sagt er, „sie hat mich gebraucht, also war ich da".
Auch im Wohnzimmer wartet eine, die ihn jetzt braucht. Mathilda Hanebuth, 20, sitzt in einem Sessel im Wohnzimmer, schaut sich um. Sprechen kann sie seit dem Ertrinkungsunfall nicht mehr, trotzdem nimmt sie mit ihrem oft unüberhörbaren Lautieren an den WG-Unterhaltungen teil. In regelmäßigen Abständen braucht sie Unterstützung beim Toilettengang. „Das war am Anfang ungewohnt", sagt Behrendt. „Die anderen drei sind super selbstständig. Da läuft das eigentlich wie von selbst."
Das ist am nächsten Morgen anders: Sarah-Lea Binnewies, 32, Brille, Kleid, sitzt im Wohnzimmer und weint, reißt Schubladen auf, schaut unter das Sofa. „Wo ist die Fernbedienung?", fragt sie. Durch Corona kann sie gerade nicht zur Arbeit. Stattdessen will sie fernsehen, „am liebsten den ganzen Tag", sagt Behrendt. Der hat Dienst, schon wieder. Die Pädagogin hat kurzfristig abgesagt, die anderen lernen für die Uni, also springt er ein, damit die Frauen nicht alleine sind, wenn sie jemanden brauchen. Weil sich die anderen am Vortag über den Fernseher beschwert haben, hat Behrendt die Fernbedienung am Morgen versteckt.
„Selbstbestimmung ist hier ein Dauerthema", sagt Farukh Sauerwein. Der Student lebt von Anfang an in der WG, kennt auch den Fernsehkonflikt. „Es gibt keinen festgeschriebenen Kodex, wie wir mit solchen Situationen umgehen. Ich könnte jetzt etwas vorschlagen. Aber hier zu leben heißt auch zu lernen, sich rauszuhalten."
Wie in anderen WGs müssen auch hier alle erst zusammenwachsen, sagt er, müssen lernen, sich gegenseitig zu verstehen. Alternativangebote zu finden. Auch: Sprachen zu verstehen, die nicht aus Worten bestehen, sondern aus Lauten, aus Gesten, wie bei Mathilda. „Wir müssen hier auch lernen, wo Grenzen liegen, wie alle Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden können. Inklusion heißt nicht, dass wir immer nur ja sagen", sagt Sauerwein. „Aber dass jeder zählt."
Kurz darauf sitzen Binnewies und Behrendt am Küchentisch. Die Tränen sind getrocknet, Behrendt hat vorgeschlagen, zusammen zu spielen, „das machen wir beide gern", sagt er. Binnewies hat zugestimmt. Unter einer Bedingung: Sie will entscheiden, was gespielt wird.