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Emanzipation durch Bürgerwissenschaft

Foto: Machbar, Potsdam

Fablabs sind offene, meist gemeinnützige Werkstätten, die sich mehrere Menschen teilen, um Dinge zu bauen und zu reparieren. Auch die Potsdamer „Machbar“ will mit diesem Ansatz Forschung, Innovation und werksähnliche Produktion zugänglicher machen.

„Unser neuestes Projekt beschäftigt sich mit Umweltsensorik, es geht dabei um die Luftqualität in Städten. Wir wollen möglichst viele Bürger dafür gewinnen, kleine, funkfähige Luftgüte-Messstationen zu installieren und so ein Netz aus Messdatensammlern zu bilden.“ Mario Parade, Mitglied des Wissenschaftsladens Potsdam und langjähriger Aktivist und Kenner der internationalen Maker-Szene, ist schnell in seinem Element.

Kaum haben wir uns vor dem Eingang der Machbar Potsdam begrüßt, erzählt er voller Emphase, was in diesem Fablab gerade passiert, und warum offene Werkstätten, Makerspaces und die Bürgerwissenschaft so zukunftsweisend sind. Parade ist überzeugt davon, dass solche Einrichtungen dazu beitragen, Forschung, werksähnliche Produktion und auch Innovationen nachhaltig zu demokratisieren.

Die von ihm erwähnten Luftmessgeräte bestehen aus einem Arduino-Minicomputer, einigen Sensoren sowie zusätzlichen Bauteilen, darunter auch einem Funkmodul, über das die gesammelten Daten weitergegeben werden können. Solche leicht vernetzbaren Mini-Messstationen sollen im Machbar-Fablab konzipiert und zusammengebaut, also lokal produziert werden.

„Es sind vergleichsweise einfache Messgeräte, die Qualität der von ihnen gelieferten Daten ist gut, aber nicht High End“, so Parade. Doch durch die Masse der Daten, die von mehreren Dutzend Mini-Messstationen stammen, ließe sich am Ende eine höhere Datenqualität erzielen, als jene von zwar hochgezüchteten, aber eben nur sehr vereinzelt aufgestellten High-End-Sensoren. Beim Fablab-Projekt muss Datenbank- und Analyse-Software ihren Teil dazu beitragen und die gesammelten Luftgütemessdaten intelligent und zielgerichtet auswerten.

Mario Parade ist kein Programmierer, er hat Physik studiert. Doch er wollte nach seinem Abschluss weder in die freie Wirtschaft gehen noch in der universitären Forschung verharren. „Da beschäftigt man sich irgendwann nur noch mit Forschungsanträgen und verliert den Bezug zu dem, was Wissenschaft für die Menschen leisten muss“, sagt er.

Mit dieser Haltung zog es ihn in die „reale Bürgerwissenschaft“ (Citizen Science), die sich in den vergangenen Jahren praktisch weltweit als Bewegung formiert hat. Den Aktivisten geht es darum, die Technologien der Dinge freizulegen, mit denen wir alltäglich umgehen. Zudem wollen sie soziale Orte schaffen, die für jeden offen sind und so einen direkten Zugang zu Wissenschaft und Technik ermöglichen.

Fablabs entstanden aus der Bürgerwissenschaft

Aus dieser Idee einer Bürgerwissenschaft entstanden sowohl Wissenschaftsläden (Science Shops) als auch kleine, offene Fabrikations-Werkstätten, auf englisch Fabrication Labs, kurz: Fablabs. Wissenschaftsläden suchen einerseits nach wissenschaftlichen Fragestellungen der Bevölkerung, die sich in Forschung überführen lassen, und andererseits nach Forschungsvorhaben, an denen Bürger mitwirken oder die sie womöglich fortsetzen können. Zu den Merkmalen der Fablabs gehören offene Türen, zugängliche Werkzeuge und das Konzept der Open Source, also der offengelegten und frei nutzbaren Codes, Verfahren und Baupläne.

„Wir können ja ruhig mal reingehen“, sagt Parade. Da hatten wir schon gefühlte 20 Minuten intensiv geredet, ohne Wind und Wetter dieses ungemütlichen Herbsttages zu bemerken. Das Gebäude, in dem der Wissenschaftsladen und das Fablab Potsdam untergebracht sind, gehört zum Freiland Potsdam, einem soziokulturellen Kultur- und Nachbarschaftszentrum nahe dem Potsdamer Hauptbahnhof (dazu mehr weiter unten).

Ganz früher wurde hier für die Rüstungsindustrie produziert, später unterhielten die Stadtwerke mehrere Werkstätten, seit 2011 ist das Gelände öffentlich nutzbar. Die konzeptionelle Umwidmung eines einstigen Industriestandortes zu einem alternativen Zentrum kommt den Vorstellungen von Mario Parade für eine offene und konstruktive Bürgerwissenschaft entgegen, so wie es auch den Vorreitern der Fablabs vorschwebte.

Im Grunde folgen die Maker der Montessori-Pädagogik, die das Kind als „Baumeister seines Selbst“ sieht und auf offenen Unterricht und Freiarbeit setzt. Das eigenhändige Bauen ist danach eine wichtige Tätigkeit, die Schüler erlebt haben sollten. Auch die in den 1970ern aufgekommenen Abenteuerspielplätze gehen auf die Ideen der Erlebnispädagogik zurück, erklärt Mario Parade. Er arbeitet als Lehrer in einer privaten Potsdamer Montessori-Schule. Für ihn sind Fablabs ein modernes Pendant der Abenteuerspielplätze.

Die Maker-Bewegung mit ihren Makerspaces oder Maker Days und die ähnlich konzipierten Hacker Spaces erweitern die schöpferischen Ansätze des Selbst-Erlernens und -Durchführens durch digitale Werkzeuge beziehungsweise programmierbare Maschinen. Einst riesige und teure Produktionsmittel sind heute nicht mehr nur der Industrie vorbehalten, sondern wandern auf den Schreibtisch und in kleine Werkstätten, weil sie kleiner und erschwinglicher werden. Beispielsweise 3-D-Drucker, 3-D-Scanner, numerisch gesteuerte (CNC-)Laser-Schneider und CAD-Software.

Dazu kommen die preiswerten, recht leistungsfähigen und vor allem vielseitig nutzbaren Mikro-Controller, wie Arduino oder Raspberry Pi. Und so steht das mehrdeutige „Making“ oder „Maker“ heute für digitales Erstellen von Dingen. Oder, wie Spiegel Online es beschrieb: „Maker sind Menschen, die Atome wie Bits behandeln.“

Baupläne stehen als Open Source im Netz

Auch in der Machbar stehen ein 3-D-Drucker, ein 3-D-Scanner und eine CNC-Fräse, die alle nicht viel mehr Platz wegnehmen als ein Bügelbrett oder ein Tischkicker. Dazu mehrere klassische Werkbänke, ein Elektroniklabor mit Lötstationen, Oszilloskop, zudem Maschinen und Werkzeuge für die Holzbearbeitung, also alles zum Basteln, Sägen, Fräsen, oder auch dreidimensional Drucken. Und natürlich Computer.

Momentan sehe alles etwas chaotisch aus, weil sie in Kürze neue Räume dazu bekämen und während der Umbauarbeiten alle zusammenrücken müssten, erklärt Parade. So stolpern wir zuerst in ein großes, ziemlich klobig aussehendes Lastenfahrrad. Es ist komplett aus gewöhnlichen Aluminium-Vierkant-Elementen und weiteren Standardteilen konstruiert, die man in jedem Baumarkt bekommt. Der Bauplan steht online frei zur Verfügung, jeder kann das Rad nachbauen oder auch optimieren.

Foto Fablab MachBar Potsdam

Foto: Fablab MachBar Potsdam

Regelmäßig findet ein Repair-Café statt, das mittlerweile gut angenommen werde, so Parade: „Anfangs dachten gerade die Älteren, sie könnten was zum kostenlos Reparieren abgeben. Denen mussten wir klar machen, dass es hier um’s Selbermachen geht und sie ihre Erfahrungen einbringen und austauschen sollen.“ Mittlerweile würden Junge und Ältere gemeinsam schrauben und löten, sich gegenseitig helfen und voneinander lernen.

Bei den mitunter anspruchsvollen Maker-Projekten der Fablabs gehe es auch darum „Ideen direkt und schnell umsetzen zu können, etwa für Prototypen oder auch Bauteile für Maschinen“, so Parade. Wesentlich ist für ihn dabei das offene Konzept, einer der Grundsätze der Maker-Bewegung: Statt sich Codes wie Patente schützen zu lassen, veröffentlichen sie ihre Projekte als Open Source, damit andere sie einsehen, nutzen und weiterentwickeln können.

Allerdings droht der Fablabs-Bewegung, dass sie sich von ihren Idealen entfremdet. Längst sind die kleinen, aber wendigen Werkstätten im Visier der Industrie, und sie laufen Gefahr, ihre Unabhängigkeit zu verlieren.

So entstanden in den letzten Jahren mit Maker-Messen attraktive Veranstaltungen, die als Treffpunkte und Ideenbörsen begannen, aber schnell zu Schaulauf-Events und Marktplätzen wuchsen und zunehmend Kapitalgeber anlockten. Die Maker Faire 2016 in Hannover zählte rund 800 Maker als Aussteller und etwa 15.000 Besucherinnen und Besucher. In den USA und auch hier trachteten viele Maker danach, zu Start-ups und kommerziell agierenden Firmen zu werden, so Parade.

Mario Parade kennt die internationale Fablab-Szene bestens, weil er von Anfang an dabei ist. Zudem ist er derzeit auch Fellow im Transformative Learning Technologies Lab der Stanford University, um mit anderen Makern aus aller Welt gemeinsam Projekte auf internationaler Ebene zu erörtern. Dazu reist er regelmäßig nach Kalifornien und tauscht sich in Videokonferenzen aus.

Als Beispiel für ein grenzübergreifendes Projekt nennt er den „Fortek Ofen“. Hierbei werden Open-Source-Baupläne für kleine Müllverbrennungsanlagen zur Verfügung gestellt, mit denen in Westafrika die dort massenhaft anfallenden und allgegenwärtigen Kunststoffabfälle in Energie umgewandelt werden können. Zudem soll dabei Ausgangsmaterial für 3-D-Drucker entstehen.

Zuviel Kommerzialisierung führt die Fablabs weg von ihren Idealen

Parade kritisiert, dass die Kommerzialisierung der Fablabs durch die Gründung von Start-ups den eigentlichen Zielen und Idealen widerspreche. „Ich finde es ja nicht verwerflich, wenn Fablabs einen Businessplan haben, den brauchen öffentliche Bibliotheken ja auch“, sagt er.

Doch private Geldgeber oder käufliche Produkte, die zwar im Fablab entwickelt, dann aber in China serienmäßig hergestellt würden, machten abhängig und würden im Wortsinn die Ideale der Maker-Bewegung verkaufen, nämlich gemeinnützig und auf Open-Source-Basis zu agieren.

Der überzeugte Gemeinnützer Parade achtet darauf, die Finanzierungen des Potsdamer Fablabs breit zu streuen und immer wieder zu wechseln. Etwa mit Crowdfunding oder Fördergeldern. Vor kurzem zählte der Wissenschaftsladen mit seinem Projekt „Fabulandlabs“ zu den 10 Gewinnern eines Wettbewerbs des Bundesforschungsministeriums.

Bei Fabulandlabs geht es darum, sogenannte „adaptierte Hilfsmittel“ für Menschen mit Beeinträchtigungen und besonderen Bedürfnissen herzustellen, etwa spezielle Werkzeuggriffe und Halterungen, spezielles Geschirr und Besteck, Großfeldtastaturen und intelligente Beschilderungen. Zudem sollen die Betroffenen direkt in die lokale, aber netzwerkgestützte Entwicklung einbezogen und auch zum eigenhändigen Anfertigen der Hilfsmittel angeleitet werden, damit sie zur nachhaltigen Weiternutzung der Lösungen beitragen können.

Auch hier steht im Mittelpunkt, Wissenschaft zu demokratisieren, die Bürger zu eigenem Handeln zu ermächtigen, damit sie mehr Souveränität über Alltagsgeräte zurückgewinnen. Parade ist überzeugt: „Es geht um die Emanzipation von den Black Boxes des Digital-Zeitalters, aber auch von den Mechanismen des geplanten Verschleißes. Die Menschen brauchen Courage, etwas auseinanderzunehmen, seinen Aufbau und seine Funktionsweisen zu verstehen und es selbst zu machen.“

Weitere Informationen

Selbstverwaltet und offen: Das Freiland Potsdam ist ganz realer Open Space

Bis vor einigen Jahren unterhielten hier die Potsdamer Stadtwerke mehrere Betriebs- und Werkstätten. Als sie sie aufgaben, entstand das Konzept einer alternativen Nachnutzung. Seit April 2011 kann das 12.000 Quadratmeter große Gelände mit seinen fünf Gebäuden öffentlich genutzt werden.

In Eigenleistung entwickelten Jugendliche und Aktivisten ein Veranstaltungshaus, Seminarräume, einen Jugendclub, ein Caféhaus, das Freie Radio FRRAPÓ, Proberäume für Musiker, mehrere Ateliers, eine Bibliothek, einen Theaterraum, einen Sportraum, diverse Büros und die Werkstätten.

Inzwischen steht das Gelände des Freiland Potsdam unter Selbstverwaltung der gemeinnützigen Unternehmensgesellschaft Cultus AG, zu der sich die rund 40 Vereine, Initiativen und Projekte zusammengeschlossen haben. Finanzielle Unterstützung boten die Landeshauptstadt und die Stadtwerke Potsdam, dazu kommen Stiftungsförderungen, Spenden sowie Vereins- und Teilnahmebeiträge für bestimmte Aktivitäten.

Der Zugang, das ehemalige Werkstor neben dem Pförtnerhäuschen, ist immer offen. Auf zwei Schildern steht „Bitte Schrittgeschwindigkeit fahren“ und „Keine Nazis“. Überhaupt atmet das Gelände alternativen, jugendlichen Geist, einige Fassaden sind mit bunten Graffiti-Kunstwerken bemalt, vieles sieht improvisiert aus, aber alles nach Dynamik und Gebrauch.

Die zentrale Idee für das Freiland Potsdam sind offene Werkstätten mit offenen Türen für offene Gruppen mit offenen Strukturen: Ein ganz realer Open Space für Macher und Künstler, Maker und Hacker.

Die Ursprünge von Fablabs liegen in der Montessori-Pädagogik

Die Idee der Fabrication Laboratories entstand in den 1990er- und 2000er-Jahren im Massuchessettes Institute of Technology (MIT) in Boston, USA. Dort forschte und lehrte auch Seymour Papert, Professor für Mathematik und Erziehungswissenschaften. Er hatte unter anderem zusammen mit dem Spielzeug-Hersteller Lego die programmierbaren Bausatz-Computer Mindstorms entwickelt.

Der 2016 verstorbene Papert war Doktorand bei Jean Piaget, einem Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie. Nach eigenen Beschreibungen setzen die Fablabs in der heutigen Zeit fort, was von der Pädagogin Maria Montessori begründet und später unter anderem von Jean Piaget und John Dewey fortentwickelt wurde.

Die Fablabs-Bewegung

Unter Fablabs – ein geschützter Begriff des MIT – sind nicht nur offene, sondern in der Regel auch gemeinnützige Werkstätten zu verstehen. Sie agieren gegen kleine Gebühren und bieten mindestens einen offenen Nachmittag für die Öffentlichkeit. Dies und anderes besagt eine Fablab-Charta, die relativ weich formuliert ist.

Derzeit gibt es um die 500 Fablabs weltweit, ein Fabwiki verortet sie auf einer Karte. Jedes Jahr findet eine große Konferenz der Fablabs statt, um über Grundsätze und Herausforderungen zu beraten. Diskutiert werden auch Probleme, wie das Herstellen einsatztauglicher Waffen mit 3-D-Druckern, wogegen man mit Codesperren angehen könnte. Zugleich werden auch Maker-Ethos und Selbstverpflichtungen diskutiert, etwa hinsichtlich biochemischer Entwicklungen, weil dort die potenziellen Gefahren noch größer sind.

Dieser Beitrag ist auch im Magazin „Das Netz 2016/17 – Jahresrück­blick Digitalisierung und Gesellschaft“ veröffentlicht. Das Magazin ist gedruckt und als E-Book erschienen, zahlreiche Beiträge sind zudem online zu lesen.

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