Georg Hagemeister begrüßt jede Flasche Flensburger Pils mit einem Stirnrunzeln. Der Braumeister, grüne Schiebermütze und Henriquatre-Bart, steht im oberbayerischen Rosenheim vor seiner Sortieranlage und fischt die Flaschen mit dem Bügelverschluss vom Fließband. „Kladderadatsch" nennt Hagemeister das nordische Pils mit Kogge und Leuchtturm auf dem Etikett.
Er schickt das leere Glas über Spediteure und Zwischenhändler wieder zurück zum Abfüller. Bei Auerbräu, 110 Mitarbeiter, 113 Jahre Firmentradition, können sie mit dem Flaschentyp nichts anfangen. Mehrmals im Monat fahren Lkw leere Bierflaschen - den ganzen „Kladderadatsch" - vom Alpenvorland in den Norden. Das Ziel: Flensburger Brauerei Emil Petersen GmbH & Co. KG, Munketoft 12, 24937 Flensburg. 1019 Kilometer Leerfahrt.
Mehrweg heißt in dem Fall: mehr Weg. Täglich schicken Deutschlands Brauereien palettenweise leere Flaschen durch die Republik. Das Beratungsunternehmen Deloitte hat in einer Studie von 2013 ermittelt, dass eine Bierflasche in ihrem Mehrweg-Leben insgesamt 437 Kilometer zurücklegt.
Neuere Untersuchungen gibt es nicht, doch Branchenkenner gehen davon aus, dass die Transportwege seitdem eher länger als kürzer geworden sind. Auf Kosten der Umwelt hat sich ein Flaschen-Puzzle verselbstständigt, das inzwischen sogar die Versorgung mit Bierflaschen erschwert. Es ließe sich mühelos vereinfachen, wenn die Brauereien nur wollten.
Denn eigentlich gilt die Bierflasche als Musterschüler im Getränkeregal. Rund 80 Prozent des Biers werden hierzulande in Mehrwegflaschen aus Glas abgefüllt. Während leere Weinflaschen normalerweise im Glascontainer zerschellen und PET-Einwegflaschen zu Plastikschnitzeln zerhäckselt werden, können Bierflaschen 30 bis 50 Mal wiederbefüllt werden.
Früher teilten sich Brauereien die FlaschenIn den 70er-Jahren, als es in Westdeutschland nur drei Fernsehprogramme und ungefähr ebenso viele Typen an Bierflaschen gab, ging das System auch auf. Nahezu alle Brauereien bedienten sich aus einem gemeinsamen Flaschenpool.
Sie reinigten die leeren Flaschen, die bei ihnen ankamen, egal aus welcher Brauerei sie ursprünglich stammten, druckten ihr Etikett drauf und füllten frisches Bier ab. Stubbi-, NRW- und Euroflasche waren bis in die 90er-Jahre die drei Standardtypen.
Doch mittlerweile gibt es mehr als 100 Flaschentypen. Sie sind längst mehr als ein Transportgut, das man solidarisch mit der Konkurrenz teilt. Seit der Jahrtausendwende verkaufen immer mehr Brauereien ihr Bier in aufwendig designten Flaschen.
Das Farbspektrum reicht von Blau bis Weiß über Grün bis Braun. Desperados wird in exotisch-bauchigen 0,66-Liter-Flaschen angeboten, Kleinbrauereien spielen mit 0,25-Liter-Klarglasflaschen. Die ausgefallensten Formate und Designs werden mit einem Design Award prämiert.
Das größte Sortierproblem sind dabei Standardflaschen mit individueller Prägung: Krombacher, Warsteiner, Veltins, Bitburger und Radeberger, Deutschlands größte Pilshersteller, verzieren den Hals mittlerweile mit ihrem Namen oder Markenslogan. Mehrere Hundert Millionen Flaschen mit individueller Reliefprägung sind deutschlandweit im Umlauf. Jede einzelne von ihnen muss zurück zum Hersteller, keine andere Brauerei kann mit der sogenannten Individualflasche etwas anfangen.
>> Lesen Sie hier: Die individuelle Prägung von Flaschen verursacht Probleme für regionale Brauereien und die UmweltDie Flasche als personalisiertes Werbemittel bindet Kunden an die Marke - das ist die Lesart der Branchengrößen. Doch der Individualisierungstrend hat noch einen anderen Grund: Großbrauereien hatten sich zuletzt immer wieder beklagt, neue Glasflaschen in das Mehrwegsystem einzuspeisen, während kleinere Betriebe als Trittbrettfahrer die Flaschen Runde für Runde neu befüllten, ohne die abgenutzten Flaschen zu ersetzen.
„Wer in individuelles Leergut investiert, stellt sicher, dass es immer wieder zu ihm zurückkommt", sagt Holger Eichele vom Deutschen Brauer-Bund, der die Interessen kleiner und großer Brauereien zusammenführt.
Welche Auswüchse der Individualisierungstrend annimmt, lässt sich bei Georg Hagemeister in Rosenheim besichtigen. Pro Woche werden bei Auerbräu rund eine Million Liter Bier abgefüllt. Das sind rund zehn Prozent des Gesamtumsatzes der Paulaner Brauereigruppe, zu der die Rosenheimer gehören.
Das Alpenpanorama im Hintergrund türmen sich auf dem Hof Paletten mit Fremdleergut, jeder Stapel so hoch wie ein Einfamilienhaus. Hagemeister zieht seine Schiebermütze tiefer ins Gesicht, zündet sich eine Pfeife an: „Seitdem die Kasperl ihren Namen auf die Flaschen schreiben, ist das Chaos nur noch schlimmer geworden."
Mitarbeiter sortieren Fremdflaschen ausIm Zweischichtbetrieb - von morgens fünf bis abends 22 Uhr - stehen mindestens zwei Mitarbeiter am Fließband und ziehen den „Kladderadatsch" aus dem Verkehr. Vor ihnen laufen die Bierkästen über das Fließband der Sortieranlage, die Alarm schlägt, wenn sie Fremdleergut entdeckt. Menschen helfen da aus, wo die Maschine überfordert ist. Und sie ist oft überfordert, verschluckt sich bei den Mengen an Fremdleergut.
Gerade mal vier Flaschentypen werden bei Auerbräu abgefüllt. „Zehn bis 30 Prozent der angelieferten Flaschen sind für uns unbrauchbar. Die Quote schwankt, ist aber in den letzten Jahren deutlich gestiegen", sagt Hagemeister.
Über 20.000 Flaschen Fremdleergut verlassen jede Woche den Hof in Rosenheim. Sie legen dann einen Zwischenstopp in München ein, wo sie von einem Leergutaufkäufer nach Flaschentyp sortiert und zurück zu den Brauereien gefahren werden.
Flaschen einschmelzen ist verbotenUm den Ursprung des Verwirrspiels zu verstehen, lohnt ein Blick auf den Anfang der Mehrwegkette. Einmal vom Pfandautomaten verschluckt, werden die einzelnen Bierflaschen noch im Getränkemarkt in Kästen einsortiert: schnell, ungeordnet, Krombacher neben Paulaner, noch rasch eine Flasche Flensburger dazwischen gekeilt.
Im ungünstigsten Fall passt nichts zusammen. Komplett vollständige, sortenreine Kästen bringen nur die wenigsten Kunden zurück. Spediteure fahren dann die (Misch-)Kästen zurück zu den Brauereien, wo die Sortierarbeit erst so richtig losgeht.
Deutschlandweit soll die Zahl der fehlgeleiteten Flaschen bei weit über einer Milliarde pro Jahr liegen. So genau führt keiner Statistik.
Nur wegschmeißen ist trotz des Sortier- und Transportaufwands keine Option. Zum einen verbietet der Gesetzgeber, einwandfreie Glas-Pfandflaschen zu vernichten. Zum anderen steigen die Herstellungskosten bei Bierflaschen seit Jahren. Nicht zuletzt, weil Energie und Sand immer teurer werden, liegt der Einkaufspreis pro Glasflasche bei zehn bis zwölf Cent - und damit über dem Pfandwert von acht Cent.
Durch den Ukrainekrieg hat sich diese Entwicklung noch einmal verschärft. Die besonders energieintensive Glasindustrie hat mit hohen Strom- und Gaspreisen zu kämpfen, die Neuglasproduktion ist in den letzten Monaten höchst unrentabel geworden. „Wer keine langfristigen Lieferverträge hat, muss für neue Glasbierflaschen aktuell 80 bis 90 Prozent mehr bezahlen als noch vor einem Jahr", sagt Eichele vom Deutschen Brauer-Bund.
Im Sommer, auf dem Höhepunkt der Grill- und Festivalsaison, befürchten einzelne Brauereien einen Flaschenengpass. „Je länger das heiße Wetter anhält, desto schwieriger kann die Leergutsituation werden", sagt Eichele. Sein Appell: Bier genießen, Flasche austrinken - und dann das Leergut zügig wieder zum Pfandautomaten zurückbringen. Vor allem kleinere Brauereien mit einem überschaubaren Flaschenpool sind darauf angewiesen, ihren Glasbestand wieder schnell in der Abfüllanlage zu haben.
Bei schätzungsweise vier Milliarden Bierflaschen, die deutschlandweit zwischen Brauereien und Konsumenten hin- und herwandern, bricht nicht von heute auf morgen der Flaschennotstand aus. Doch Bier wird teurer, und dazu trägt auch der Flaschenwirrwarr bei. Die größten Pilsmarken haben im Frühjahr die Preise um etwa zehn Prozent erhöht.
Bereits die Coronakrise hat der Braubranche zugesetzt, aktuell fehlen Lkw-Fahrer, manche Speditionen bedienen wegen der hohen Spritpreise einzelne Strecken nicht mehr. Da würde es enorm helfen, wenn nicht mehr so viele leere Flaschen durch Deutschland gefahren würden und der Sortieraufwand nicht so groß wäre.
„Seitdem die Kasperl ihren Namen auf die Flaschen schreiben, ist das Chaos nur noch schlimmer geworden." Georg Hagemeister, Braumeister in RosenheimBei Veltins im Sauerland musste die Belegschaft jahrelang an den Wochenenden im Dreischichtbetrieb zum Sortieren antreten, fischte dabei Unterwäsche und jedes Jahr im Schnitt zwei Kisten Schlüsselbunde aus dem Leergut. Die Flaschenmengen seien „irgendwann nicht mehr zu schaffen" gewesen, erinnert sich Ulrich Biene, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.
2005 investierte Veltins über 20 Millionen Euro in eine vollautomatische Sortieranlage. Pneumatische Greifarme krallen sich seitdem einzelne Kisten, zehn Kameras vermessen die Flaschen. Pro Tag werden bis zu drei Millionen Flaschen sortiert. Mit den anderen Großbrauereien hat Veltins Tauschverträge abgeschlossen: Lkw-Ladung Krombacher gegen Lkw-Ladung Veltins.
Brauereien wollen mehr Flaschen teilenDie Hersteller haben erkannt, welch absurde Auswüchse der Individualisierungstrend angenommen hat, und arbeiten an einer Lösung: Back to the 70s. Gemeinsam gepflegte Flaschenpools, auf die möglichst viele Brauereien zugreifen, sollen Transportwege kurz halten und die Sortierarbeit für alle reduzieren.
Bei der genauen Umsetzung eines solchen Pools ist es aber mit der Einigkeit vorbei. Die Marktführer Krombacher, Warsteiner, Radeberger und Bitburger haben sich im Herbst 2021 zusammengeschlossen, um eine einheitliche Pilsflasche auf den Markt zu bringen.
Die Initiative gibt klare Spielregeln an die Hand, wer wann und wie viel Prozent Neuglas beisteuert. Doch kleinere Brauereien fühlten sich bevormundet und arbeiten nun ihrerseits daran, ein genossenschaftliches Modell für Poolflaschen zu etablieren.
Versuche, beide Initiativen zu verbinden, sind gescheitert. Auerbräu beobachtet die Bemühungen, will aber vorerst keinem Poolmodell beitreten. Auch Veltins ist in keinem der beiden Poolsysteme Mitglied.
Aktuell ist ohnehin kein günstiger Zeitpunkt, um in gemeinsame Flaschen zu investieren, deren Preis der Ukrainekrieg gerade in die Höhe treibt. „Angesichts der Kostenexplosion steht eine Poolmitgliedschaft nicht auf der Tagesordnung", sagt Veltins-Pressechef Biene.
Ein Land, eine Bierflasche: Das bleibt vorerst eine Illusion. Auf absehbare Zeit wird es weiter ein Flaschen-Sammelsurium geben. Den einfachsten Weg, den Flaschentourismus zu begrenzen und den Schluck aus der Pulle nachhaltiger zu gestalten, kann ohnehin der Verbraucher beschreiten: „Wer regionales Bier kauft und die leeren Flaschen auch in der Region zurückgibt, vermeidet lange Wege", sagt Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe.
Oder halt gleich ein ganzes Bierfass kaufen. Davon gibt es deutlich weniger als 100 Designs.
Mehr: Brauereien beklagen Kostenexplosionen und erhöhen die Preise