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Münchens grünstes Dorf

Christa Epe und Ludger Korintenberg wohnen seit fast fünfzig Jahren Tür an Tür. Foto: Finn Winkler

Anfangs als Betonwüste und Geisterstadt verschrien, zählt das Olympiadorf fünfzig Jahre später zu den zu den gefragtesten Wohnquartieren der Stadt. Doch ohne Beziehungen läuft hier nichts.

Vom zwanzigsten Stock aus reicht der Blick an Sonnen­tagen bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen. An schlechten Ta­gen tröstet der Blick auf den grünen Olympiahügel direkt vor der Haustür. Mit der U-Bahn sind es fünfzehn Minuten bis zum Marienplatz. Von au­ßen mag der hoch aufgeschossene Béton Brut abschrecken, doch von ganz oben, von den Penthouse-Fenstern der Hochhäuser, werden die Vorzüge sichtbar.

Als „Musterstadt der Moderne" entworfen, ist das Olympiadorf heute ein Vorzeigequartier: grün, autofrei und fa­milienfreundlich. Fünfzig Jahre nachdem die Sportler die Wohnanlagen verlassen haben, leben nun rund 8000 Menschen im Quartier. Die Bewerberlisten auf eine Wohnung im Dorf sind lang.

Dabei war der Start holprig. Das Olympiadorf war ein architektonisches Wagnis, entstanden unter größtem Zeitdruck so­wie den Augen der Weltöffentlichkeit. In­nerhalb von fünf Monaten musste nicht nur der städtebauliche Entwurf stehen, sondern es mussten auch rund siebzig verschiedene Grundrisse für sieben Wohnhaustypen entwickelt werden. Das Stuttgarter Architektenbüro Heinle, Wischer und Partner gestaltete das Wohnviertel, das als Teil des Ensembles „Olympiapark" seit 1998 unter Denkmalschutz steht.

Schon in der Planungsphase war vorgesehen, die Wohnungen der Sportler nach dem olympischen Spektakel in eine nachhaltige Stadt zu verwandeln. Heute bietet die Planstadt unter anderem Einzimmer-Apartments in Terrassenhäusern, eingeschossige Atrium-Reihenhäuser mit Garten, Hochhauswohnungen und bunt bemalte Bungalows im Studentendorf.

Das Gemeinschaftsgefühl eines Dorfes mit dem kulturellen Angebot einer Stadt zusammenführen - so lautete das visionäre Ziel der Stadtplaner Ende der Sechzigerjahre. Doch der Plan scheiterte anfangs grandios. München fremdelte mit der Retortenstadt, viele Wohnungen blieben nach den Olympischen Spielen 1972 leer. In den Anfangstagen schlich der Hausmeister durch die verlassenen Wohnungen und knipste dort Licht an, damit es wenigstens ein wenig nach Le­ben aussah, wo kein Leben war. Heute gibt es auf dem 300 Hektar großen Areal eine Schule, ein Kino, ein Ärztehaus so­wie eine große Auswahl an Supermärkten, Bäckereien, Restaurants, Friseuren und Nagelstudios. Das Olympiadorf ist beliebter denn je. Sechs Bewohner er­zählen, warum.

Die Ureinwohner

Am Anfang war der Beton, und der schreckte ab. Doch Christa Epe und Ludger Korintenberg haben in der Modellstadt immer schon mehr gesehen als die Betonfassaden. Im Frühjahr 1975 sind die beiden mit ihren Familien in die zweigeschossigen Reihenhäuser im Olympiadorf gezogen. Sie sind Nachbarn, seit fast fünf Jahrzehnten trennt sie nur eine 40 Zentimeter dicke Wand. Sie wollten nie wegziehen und sind es auch nie. Als „Ureinwohner" bezeichnet sich der 86 Jahre alte Korinthenberg. Er ist für ein gemein­sames Gespräch ins Nachbarhaus gekommen, wie so oft in all den Jahren. Epe und Korintenberg waren jahrelang im Vorstand der Interessengemeinschaft der Ein­wohner des Olympiadorfs.

Gemeinsam überlegten sie, wie sie Ladengeschäfte attraktiver machen könnten. Zur Jahrtausendwende stemmten sie sich erfolgreich gegen den FC Bayern München, der mit dem Gedanken spielte, ihnen sein neues Stadion direkt vor die Nase zu setzen. Die 79 Jahre alte Epe geht immer noch mit der Stimme hoch, voller Entrüstung über die Pläne.

Die Anfangsjahre waren einsam, weil das Olympiadorf erst von einer Gebäudeformation zur urbanen Dorfgemeinschaft wachsen musste. Im ersten Jahr nach den Spielen waren nur rund 800 der 3000 Häuser und Wohnungen verkauft. Viele Münchner fremdelten zunächst mit dem Gedanken, in einer leblosen Modellstadt zu wohnen. Die Wirtschaftskrise Anfang der Siebzigerjahre machte sich auch in der Bauwirtschaft bemerkbar. Um dem Leerstand entgegenzuwirken, lockte die Stadt München mit günstigen Darlehen.


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