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Ein-Dollar-Brille: Durchblick für Alle

Mit ihrer neuen Brille kann Viviana Chacolla ihrer Enkelin endlich Gute-Nacht-Geschichten vorlesen.

Für Millionen Menschen weltweit ist eine Brille unerschwinglich. Der ehemalige Lehrer Martin Aufmuth möchte das ändern - mit einer ganz besonderen Sehhilfe.

Alpakas, Andenhöhen und Salzwüsten - all das will sehen, wer nach Bolivien reist. Der Wunsch von Viviana Chacolla kommt deutlich bescheidener daher: Endlich wieder die Rechtschreibfehler der Kinder erkennen, die sie unterrichtet; Zahlen zweifelsfrei entziffern - und vor allem ihrer Enkelin eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.

Jeden Tag lebte die Grundschullehrerin aus Boliviens Hauptstadt La Paz mit der Angst, dass ihre Sehschwäche auffliegt und sie ihre Anstellung verliert. Sie hatte sich schon ein zweites Standbein aufgebaut, fuhr nachmittags mit dem Taxi durch die Stadt, als sie auf Martin Aufmuth traf. Aufmuth, selbst lange im Schuldienst, hatte das im Gepäck, was der bolivianischen Kollegin fehlte: eine passende Brille.

„OneDollarGlasses" hat der Realschullehrer sein ehrgeiziges Projekt getauft. Und diese „EinDollarBrillen" sollen Viviana Chacolla sowie rund 950 Millionen weiteren Menschen helfen, denen trotz Sehfehler schlicht das Geld für eine Brille fehlt. Allein in Bolivien, einem der ärmsten Länder Südamerikas, fehlt jedem Zehnten der Zugang zur augenoptischen Grundversorgung. Das eine sind Zahlen und Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das andere sind persönliche Schicksale. Landwirte, die nicht mehr genau sehen, wo sie wie viele Kartoffelknollen ausgesät haben. Schülerinnen, die das Tafelbild nicht mehr lesen können und deshalb die Schule verlassen.

Ein halbes Jahr experimentierte Martin Aufmuth in seiner Waschküche

Und wie kam Aufmuth zu seinem Projekt? „Ich hatte gelesen, dass sehr viele Menschen auf der Welt eine Brille benötigen, sich aber keine leisten können. Wenig später hielt ich im Discounter eine Lesebrille für einen Euro in der Hand." Der Missstand schien lösbar.

Erst grübelte Aufmuth, dann experimentierte er in seiner Waschküche im fränkischen Erlangen. Es dauerte ein halbes Jahr, ehe der Mathe- und Physiklehrer mit dem Ergebnis zufrieden war. Entstanden ist eine patentierte Biegemaschine, mit deren Hilfe sich in wenigen Minuten Federstahldrähte zu einem passgenauen Brillengestell formen lassen. Aufmuth hat das zur besten Sendezeit vor laufender Kamera demonstriert. Innerhalb einer Werbepause fertigte der Sozialunternehmer dem Moderator eine Brille. Auf Bügel und Nasensteg wird ein Schrumpfschlauch aufgesetzt, bunte Perlen machen jedes Modell zum Unikat. Die Gläser in 25 unterschiedlichen Stärken werden einfach in den Rahmen geklickt.

Laut dem Bericht „World Report on Vision" der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2019 (nur auf Englisch verfügbar) haben mindestens eine Milliarde Menschen weltweit eine Sehschwäche, die entweder medizinisch hätte verhindert werden können oder nicht adäquat behandelt wird, etwa weil Fachpersonal fehlte.

Die Innovation ist kein neues Produkt. Brillen gibt es seit dem Mittelalter. Die Kunst bestand darin, teure Maschinen überflüssig zu machen, Arbeitsschritte zu reduzieren und Materialkosten zu sparen. Die Biegemaschine läuft ohne Strom, die vorgeschliffenen Kunststoffgläser müssen nicht nachbearbeitet werden.

Aus dem Prototyp in der Waschküche ist seit 2012 ein stetig wachsendes Social Business mit 300 ehrenamtlichen Unterstützer:innen in Deutschland geworden. Nach eigenen Angaben hat das Sozialunternehmen bislang rund 300 000 Brillenmodelle gebogen und ist in acht Entwicklungsländern auf drei Kontinenten präsent. Brillen für alle. Ein ehrenwertes Ziel, aber geht das nicht auch ressourcenschonender mit recycelten Brillen? „Der Gedanke ist gut. Aber eine gebrauchte Brille wieder herzurichten ist fast 20-mal so teuer", sagt der Unternehmer Aufmuth und ergänzt: „Wir wollen Entwicklungsländer nicht nur mit Brillengläsern überhäufen, sondern Strukturen aufbauen, so dass Brillen vor Ort repariert und kostenlose Sehtests durchgeführt werden können."

Die „OneDollarGlasses"-Initiative bildet weltweit Fachkräfte aus

In Bolivien fahren drei mobile Teams durch das dünnbesiedelte Land. In Minibussen haben sie alles dabei, was sie für die Sofortbrille („Lentes al Instante") brauchen. Zunächst steht ein kostenloser Sehtest an. Die Initiative bildet dazu Fachkräfte aus, etwas mehr als 20 Angestellte gibt es in Bolivien. Die Brille selbst kostet 80 Bolivianos (rund 9,50 Euro), dafür müssen Bolivianer:innen durchschnittlich drei Tage arbeiten.

Verkaufen, nicht verschenken. Auch der Aspekt ist dem Gründer wichtig: „Die Brillen sind erschwinglich, aber haben einen sozialen Preis, der an das Durchschnittseinkommen im Land angepasst ist. So stellen wir sicher, dass die Brillen nur an diejenigen gehen, die zwingend darauf angewiesen sind."

Kostendeckend arbeiten kann „OneDollarGlasses" mit den Verlaufserlösen nicht. Spenden machen weit über 90 Prozent der Einnahmen aus. Als ein renommierter Rüstungshersteller seine Unterstützung beim Biegen der Brillengestelle anbot, lehnte Aufmuth ab. Ansonsten darf der 47-Jährige nicht so wählerisch sein. Damit das Projekt wie angedacht auch in Ländern wie Peru oder Kolumbien Fuß fasst, müssen auch neue Spendengelder aufgetrieben werden.

Viviana Chacolla, die Lehrerin mit dem verschwommenen Blick, hat keine Stunde auf ihre Brille gewartet. Es war nicht ihre erste Brille, aber die erste, die an ihre Augen angepasst war, wie sie Martin Aufmuth später erzählte: „Mit dieser Brille kann ich sehen! Mit meiner alten nicht. Ich wusste gar nicht, dass es verschiedene Brillengläser gibt."

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