Kurakhove/DnipropetrowskEs ist kalt geworden in der Ukraine. Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen Borispol in Kiew mustert die Grenzschützerin den Besucher mit kühlem Blick. „Was wollen Sie hier?", fragt die Mittvierzigerin und lässt keinen Zweifel daran, dass Argwohn und Misstrauen bei ihr mittlerweile an erster Stelle der Dienstanweisungen steht.
Weiterflug nach Dnipropetrowsk. Die Millionenstadt in der Ostukraine ist nur gut 200 Kilometer von den schweren Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und Verbänden der ukrainischen Armee in und um Donezk herum entfernt. Auch hier ein ähnliches Bild: ein eiskalter Blick der Sicherheitskräfte. Das Gepäck muss erneutet durchleuchtet werden, obwohl das bereits zweimal in Kiew gemacht wurde.
Die Ukraine befindet sich im Krieg, und mehr noch als nur vor einem Monat ist das überall zu spüren. Fast genau ein Jahr nach Beginn der Proteste auf dem Maidan in Kiew hat sich die Situation in Europas größtem Flächenstaat dramatisch verschlechtert.
Putin spricht...„Die Militarisierung des Weltraums und die US-Stützpunkte in Europa und Alaska, direkt an unserer Grenze, nötigen uns zu einer Reaktion." am 10.09. in einer Pressekonferenz
„Russland behält sich das Recht vor, alle vorhandenen Mittel zu nutzen, sollte es in östlichen Regionen der Ukraine zu Willkür kommen." am 4. 3. in einer Pressekonferenz
„Diese Gebiete (im Süden und Osten der Ukraine) waren als Neurussland historisch ein Teil des Russischen Reiches. Erst in den 1920er Jahren wurden die Territorien von den Bolschewiken der Ukraine gegeben. Gott weiß warum." am 17. 4. im russischen Staatsfernsehen
„Es müssen umgehend substanzielle inhaltliche Verhandlungen anfangen - nicht zu technischen Fragen, sondern zu Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Südosten der Ukraine." am 31. 8. vor dem Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe
Die prorussischen Separatisten haben in den vergangenen Wochen erneut massiv militärische Unterstützung aus Russland erhalten. Nicht nur die Nato und die OSZE haben mehrfach große Militärkonvois beim Überqueren der löcherigen Grenze zwischen Russland und der Ukraine beobachtet.
Auch unabhängige Journalisten berichteten über die mit modernen Waffensystemen beladenen LKW, die von Russland in Richtung Donezk fuhren. Allein in den vergangenen 30 Stunden kamen nach bislang unbestätigten Angaben wieder mindestens zehn ukrainische Soldaten bei den Kämpfen ums Leben.
Einst machte er Geschäfte mit Gazprom, nun fürchtet der ukrainische Oligarch Dimitro Firtasch um sein Leben. Im Interview erklärt er, warum er mit einem Attentat rechnet. Und er redet Klartext über die Regierung in Kiew.
Moskau hat bisher eine Beteiligung an den Kämpfen im Osten des Landes stets zurückgewiesen. Allerdings, und das trägt zu einer weiteren Zuspitzung der Lage bei, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit der ARD, in den Gebieten der Aufständischen versuche die ukrainische Armee, alles zu vernichten.
„Wir wollen das nicht", sagte Putin und fügte dann etwas hinzu, dass die Furcht vor einer weiteren Eskalation erhöhen dürfte. „Und wir lassen es nicht zu." Damit deutete der Kreml-Chef erstmal offen an, dass Russland in den Konflikt eingreifen könnte.
Zu einer weiteren Eskalation der ohnehin sensiblen Lage dürfte der Beschluss des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko führen: Er entschied am Samstag, dass binnen einer Woche keine Sozialleistungen mehr an die Menschen in den von den Rebellen ausgerufenen Volksrepubliken ausgezahlt werden sollen.
Davon sind vor allem ältere Menschen betroffen, die künftig auf ihre Rentenzahlungen aus Kiew vergeblich warten werden. Aber nicht nur sie werden die Leidtragenden sein: Auch die Finanzierung von Schulen, Krankenhäusern und anderer staatlicher Institutionen werde eingestellt, ließ Poroschenko mitteilen.
Das sind die Sanktionen des Westens gegen RusslandDie EU erschwert den Zugang zu den EU-Finanzmärkten für russische Banken. Gilt für alle Banken mit einem staatlichen Anteil von mindestens 50 Prozent. Sie können auf den EU-Kapitalmärkten keine neuen Wertpapiere oder Aktien von russischen Unternehmen mehr verkaufen.
In den USA fallen drei weitere Banken im russischen Staatsbesitz unter die Strafmaßnahmen, damit sind es nun fünf von sechs: Die Bank von Moskau, die Russische Landwirtschaftsbank und die VTB Bank kamen hinzu. Ihnen wird der Zugang zu mittel- und langfristiger Dollarfinanzierung für Russland erschwert. Sie dürfen aber weiter in den USA operieren.
Die EU verbietet künftige Rüstungslieferungen. Betroffen sind alle Güter, die auf einer entsprechenden Liste der EU stehen. Gilt nicht für bereits unterzeichnete Verträge, also auch nicht für die Lieferung von zwei französischen Hubschrauberträgern im Wert von 1,2 Milliarden Euro an Russland.
In den USA wurde die United Shipbuilding Corporation (größtes russisches Schiffsbau-Unternehmen) zu den bislang acht auf der Sanktionsliste stehenden Firmen im Verteidigungssektor ergänzt. Die Unternehmen dürfen nicht mehr das US-Finanzsystem nutzen oder mit amerikanischen Bürgern Geschäfte machen.
Die EU verbietet den Export von bestimmten Hochtechnologiegütern an das Militär. Gilt beispielsweise für Verschlüsselungssysteme sowie für Hochleistungscomputer.
Die EU untersagt die Ausfuhr für Spezialtechnik zur Ölförderung. Zielt auf Geräte, die für Ölbohrung und -förderung beispielsweise in der Arktis gebraucht werden.
Auch in den USA gelten für Unternehmen aus der Ölbranche eingeschränkte Importmöglichkeiten für Technik zur Erschließung von Ölquellen in tiefen Gewässern, vor der arktischen Küste oder in Schiefergestein. Die aktuelle Energieproduktion werde damit aber nicht beeinträchtigt.
Man wolle den Terrorismus nicht mitfinanzieren, erklärte ein Regierungsvertreter. Das nicht ausgezahlte Geld werde aber nicht anderweitig ausgegeben, sondern soll als humanitäre Hilfe in die besetzten Gebiete zurückfließen.
Mit der Maßnahme erhöht die Regierung in Kiew den Druck auf die Separatisten enorm. Denn in den beiden von den prorussischen Rebellen ausgerufenen „Volksrepubliken" ist die Infrastruktur durch monatelange Kämpfe zerstört.
In Donezk, Luhansk und anderen Orten ist nicht einmal mehr die Wasser- und Stromversorgung gewährleistet, Straßen und Flugplätze sind zerbombt, Krankenhäuser und Schulen teilweise stark beschädigt. Hinzu kommt ein neuer Feind: Der nahende Winter.
Die Vorbereitungen auf den Einbruch der Kälte laufen vor allem im Osten des Landes auf Hochtouren. „Wir haben soviel Holz gesammelt, wie schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr", erzählt Evgenia, die vor ihrem kleinen Häuschen einen Berg aus Holz aufgeschichtet hat.
Hier in Kurakhove, nur 30 Kilometer von Donezk entfernt, ist sie nicht die Einzige, die sich auf den bevorstehenden Winter vorbereitet. Und das, obwohl die kleine Stadt mit ihren rund 20.000 Einwohnern ein riesiges Wärmekraftwerk am Fluss Volycha beherrbergt. „Wir wissen ja nicht, was hier noch alles passiert", sagt Evgenia, die ihren Nachnamen nicht nennen will.
In Kurakhove sind die Kämpfe im nahen Donezk zu hören. Vor allem nachts, wenn kein anderer Lärm ablenkt, schrecken dumpfe Granateneinschläge in der Ferne auch die Menschen hier auf. Viele, so erzählen sie in einem der kleinen Restaurants an der Durchfahrtsstraße nach Donezk, hätten die Gegend bereits verlassen.
„Aus Angst, dass der Krieg auch hierher kommt", sagt ein Mann mittleren Alters. Er selbst ist geblieben, um sein Häuschen zu beschützen. Doch Kinder und Frau seien zu Verwandten ins rund 170 Kilometer entfernte Saporischschja gezogen.
Auch in den an die Regionen Donezk und Luhansk angrenzenden Gebieten wie Dnipropetrowsk und Saporischschja ist der Krieg zu spüren. Zwar gibt es hier keine Kämpfe, und der überwiegende Teil der Bevölkerung steht hinter der Regierung in Kiew.
Und doch ist das Leben auf einmal ganz anders als noch vor einigen Wochen. Vor allem ist es sehr viel teurer geworden. Die ukrainische Währung Hrywnja hat gegenüber dem Euro seit Jahresbeginn fast die Hälfte an Wert verloren. Im Januar gab es für einen Euro noch rund 10 Hrywnja, heute sind es 19.
Kein Wunder also, dass viele Menschen unter den stark gestiegenen Preisen vor allem für importierte Lebensmittel leiden. Im vergangenen Monat, so teilte die Zentralbank in Kiew mit, habe die Inflationsrate bei knapp unter 20 Prozent gelegen.
Was nüchtern klingt, sorgt für Zukunftsängste. „Alles wird teurer, aber mein Gehalt ist nicht gestiegen", klagt Elena, Sekretärin in einem Maschinenbau-Betrieb. Der Versuch der Zentralbank, den Absturz zu bremsen, scheiterte: Die Leitzinserhöhung vergangene Woche auf 14 Prozent hatte keinen Effekt.
Und so kämpfen das Land und seine Menschen derzeit an vielen Fronten: Gegen die von Russland unterstützten Separatisten, gegen den Zerfall der einheimischen Wirtschaft, gegen die weitverbreitete Korruption und vor allem gegen sich selbst.
Denn viele im Osten haben resigniert, wollen aufgeben, wollen weg. Vor einer der Wechselstuben in Dnipropetrowsk steht Oleg, 41 Jahre alt. Er will wechseln, Hrywnja gegen Dollar oder Euro, „was sie gerade da haben".
Um sicher zu sein, falls die eigene Währung angesichts der enormen Verschuldung des Landes von rund 65 Milliarden Dollar noch weiter stürzt, wie er befürchtet. Und dann sagt Oleg noch etwas, was die meisten denken, aber nicht laut aussprechen wollen: „Ohne die Hilfe des Westens ist unser Land verloren."
Daten und Informationen über die Wirtschaft von Ukraine.