KiewFeierlaune hat hier niemand. Nicht die Alten, nicht die Jungen, niemand. Und doch gibt es kaum jemanden, dem nicht dieses Datum bewusst ist, der nicht Erinnerungen an diesen 21. November hat.
„Ich war von Beginn an dabei", erzählt Volodimyr, Rechtsanwalt in der ukrainischen Hauptstadt. Dabei waren zu Beginn noch nicht die Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden, deren Proteste Wochen später dafür sorgten, dass Präsident Wiktor Janukowitsch die Flucht ergreifen musste. Dabei waren zu Beginn vor allem jüngere Menschen, die gegen die Habgier, die Selbstbedienungsmentalität der Machtelite, die Korruption und für Demokratie und vor allem für die Annäherung an den Westen auf die Straße gingen.
Es ist der 21. November 2013, ein spätherbstlicher Donnerstag in Kiew, als sich die ersten Menschen auf dem Maidan versammeln. Stunden zuvor hatte Janukowitsch das mitgeteilt, was bereits seit Tagen als Gerücht die Runde in der ukrainischen Hauptstadt machte: Er werde das seit Jahren verhandelte Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen. Massiver Druck aus Moskau, das eine Annäherung der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine an den Westen von Beginn an mit größtem Argwohn betrachtete, und die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von dem großen Nachbarn waren die Auslöser für Janukowitsch Kehrtwende.
Sie sollte ihn zweieinhalb Monate später das Amt kosten.
„Stabilität gibt es nur mit Russland": Ex-Außenminister Genscher meldet sich in der Ukraine-Krise zu Wort - und mahnt im Handelsblatt zu verbaler Abrüstung. Lesestoff für eine zunehmend gespaltene Bundesregierung.
Dazwischen lagen wochenlange Demonstrationen in bitterer Kälte. Die ersten Zelte wurden auf der Prachtstraße Kreschtschatik, unweit vom Unabhängigkeitsplatz Maidan, errichtet, Barrikaden aus Sandsäcken und Autoreifen sollen die Sicherheitskräfte von einem Eingreifen abhalten. Die Menschen auf dem Maidan werden weltweit zum Symbol für den Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit.
Einen ersten Höhepunkt erreichten die Proteste am Abend des 29. Novembers, dem Tag, an dem Janukowitsch in der litauischen Hauptstadt Vilnius beim EU-Gipfel zur östlichen Partnerschaft seine Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen endgültig verweigerte. Waren es bislang hauptsächlich junge westorientierte Menschen, schlossen sich nach dem 29. November auch immer breitere Bevölkerungsschichten an. Sie alle hatten zwei Forderungen: Rücktritt von Janukowitsch und der Regierung, sowie Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen mit der EU.
Ein Fahnenmeer aus EU-Flaggen ziert an den kalten Wintertagen den Maidan. Bei den vielen Souvenir-Händlern finden die blau-gelben ukrainischen Fähnchen inklusive der EU-Sternchen für fünf Hrywnja, damals rund 44 Cent, reißenden Absatz. „Unser System besteht aus Korruption und Vetternwirtschaft, sagte Vlad, der extra aus Odessa angereist war", im Februar. Und: „Es sind Banditen, die das Land regieren". Damit soll nun Schluss sein.
Die Unzufriedenheit einer klaren Bevölkerungsmehrheit ist wegen der ausufernden Korruption, gegen die man bereits zehn Jahre zuvor bei der orangenen Revolution auf die Straße gegangen ist, stetig gewachsen. Jetzt soll der „Maidan 2.0", wie eine Kiewer Zeitung die neuen Demonstrationen nennt, das Scheitern der orangenen Revolution vergessen machen, endgültig die Wende bringen und die alten, korrupten Machthaber aus dem Amt jagen. Die Zahl der Demonstranten steigt jetzt an manchen Tagen auf weit über 500.000, unter ihnen auch gewaltbereite Rechtsextreme, die allerdings eine Minderheit bilden.
Janukowitsch zeigt sich von der Stärke der Proteste unbeeindruckt und setzt am 18. Februar erneut die gefürchtete Spezialeinheit Berkut gegen die Demonstranten ein, die mittlerweile Rathaus, Gewerkschaftshaus und andere zentrale Gebäude besetzt halten: Mehr als 100 Demonstranten fallen Scharfschützen zum Opfer. Trauriger Höhepunkt der Maidan-Proteste - und gleichzeitig das Ende der Ära Janukowitsch.
Die meisten der Kugeln stammten aus Gewehren der von ihm eingesetzten Berkut-Einheiten. Ob er auch den Schießbefehl gegeben hat, ist bis heute unklar. Drei Tage später ergreift Janukowitsch die Flucht nach Russland. Wenig später wird eine Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk gebildet.
Heute rollt wieder der Verkehr über den Kreschtschatik. Das durch einen Brand nahezu vollkommen zerstörte Gewerkschaftshaus am Unabhängigkeitsplatz mitten im Zentrum ist mit einer bemalten Plane verhängt, die Geschäfte haben wieder geöffnet. An den Wochenenden flanieren erneut Tausende über die dann autofreie Prachtstraße Kiews.
Von Normalität kann allerdings keine Rede sein. Es sind nicht nur die Einschusslöcher an Lichtmasten unweit des Hotel Ukrainia am Maidan, die von den blutigen Auseinandersetzungen zeugen, sondern auch das notdürftig geflickte Straßenpflaster und vor allem die vielen Blumen, die an die Toten des Maidan erinnern sollen.
Putin spricht...„Die Militarisierung des Weltraums und die US-Stützpunkte in Europa und Alaska, direkt an unserer Grenze, nötigen uns zu einer Reaktion." am 10.09. in einer Pressekonferenz
„Russland behält sich das Recht vor, alle vorhandenen Mittel zu nutzen, sollte es in östlichen Regionen der Ukraine zu Willkür kommen." am 4. 3. in einer Pressekonferenz
„Diese Gebiete (im Süden und Osten der Ukraine) waren als Neurussland historisch ein Teil des Russischen Reiches. Erst in den 1920er Jahren wurden die Territorien von den Bolschewiken der Ukraine gegeben. Gott weiß warum." am 17. 4. im russischen Staatsfernsehen
„Es müssen umgehend substanzielle inhaltliche Verhandlungen anfangen - nicht zu technischen Fragen, sondern zu Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Südosten der Ukraine." am 31. 8. vor dem Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe
Eine Revolution, zwei Wahlen und einen fortdauernden Krieg später steht die Ukraine immer noch vor einer Zerreißprobe. Nach der Flucht von Janukowitsch hat es die neue Regierung versäumt, den Menschen in den östlichen Landesteilen, der Heimat des Kleptokraten Janukowitsch, das Gefühl zu geben, zu einer geeinten Ukraine zu gehören.
Ein äußerst zweifelhaftes Sprachengesetz, das Ukrainisch als einzige offizielle Amtssprache vorsah, wurde zwar schnell wieder zurückgenommen. Doch die Furcht der Menschen in der Ostukraine wuchs, dass Kiew sie nicht gleichberechtigt vertreten würde. Nach der Annexion der Krim im März dieses Jahres durch Russland, wurden Abspaltungstendenzen auch im Donbass immer deutlicher.
Wie schon auf der Schwarzmeerhalbinsel nutzte Moskau die Situation für seine eigenen Interessen aus: Man werde nicht zulassen, dass die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung unterdrückt werde. Dabei scheute Russland auch nicht drastische Vergleiche. Eine Junta würde in Kiew regieren, Faschisten seien dort am Werke, tönte es im Gleichklang in den russischen Medien, die auch eine der Hauptinformationsquellen auf der Krim und in der Ostukraine sind.
Dass mit Petro Poroschenko im Frühjahr ein gemäßigter Präsident gewählt wurde, dass vor einem Monat bei den ersten Parlamentswahlen nach den Maidan-Protesten rechtsradikale und stark nationalistische Parteien mehr oder minder untergingen, wird verschwiegen.
Dagegen heizte Russland die Stimmung an, versorgte obskure Rädelsführer in den Regionen Donezk und Luhansk mit Waffen, Militärgerät, Know How vermutlich auch mit Geld. Moskau will die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine unter allen Umständen in seinem Einflussbereich behalten. Und dazu scheinen alle Mittel recht: Ähnlich wie schon auf der Krim kamen den prorussischen Separatisten plötzlich Soldaten ohne Kennzeichen an ihren Uniformen zu Hilfe.
Das Ausrufen eigener Volksrepubliken in der Ostukraine nach nachweislich gefälschten Volksabstimmungen veranlasste Kiew, eine „Anti-Terror-Operation" zu starten. Bei den Kämpfen, die trotz einer im September ausgehandelten Waffenruhe, weiterhin anhalten, sind bislang mehr als 4300 Menschen ums Leben gekommen. Der unversöhnliche Ton auch der Regierung in Kiew lässt fürchten, dass die Kämpfe weitergehen.
Kiew versucht mit militärischen Aktionen und einer Finanzblockade die Separatisten zurückzudrängen. Mit wenig Erfolg. Und die Gefahr besteht, dass die Zivilbevölkerung wegen ausbleibender Rentenzahlungen und Dauerbeschuss in einigen Gebieten sich endgültig von der Zentralregierung lossagt.
Rentner ohne Renten, Schüler ohne Schulen, Kranke ohne Krankenhäuser: Die ukrainische Regierung will sämtliche staatliche Leistungen in den Rebellengebieten im Osten kappen. Für die Menschen vor Ort ein harter Schlag.
Auf dem Maidan in Kiew wird an diesem Freitag im Beisein von Petroschenko und vielen Angehörigen der Toten gedacht. Fotoausstellungen, Konzerte und Diskussionsveranstaltungen sollen den Geist der Proteste am Leben halten. „Immerhin", so sagt eine jüngere Frau, „wurden bei den Wahlen tatsächlich einige von uns ins Parlament gewählt". Neue, unverbrauchte Köpfe der Zivilgesellschaft im Parlament - das sind Menschen, die die Hoffnung verbreiten, der Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft könne doch trockengelegt werden. Denn das ist Poroschenko und der Regierung bislang nicht gelungen.
Auch wartet eine angekündigte und äußerst notwendige Justizreform auf ihre Umsetzung. Nicht zuletzt muss die völlig zusammengebrochene Wirtschaft aufgebaut werden. Aber vor allem muss der Konflikt im Osten des Landes gelöst werden. Es sind so viele Aufgaben, dass selbst optimistische Ukrainer an einem Erfolg zu zweifeln beginnen.
Und so sind es nachdenkliche Gesichter, die am ersten Jahrestag der Maidan-Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz zu sehen sind. „Von Europa sind wir enttäuscht", sagt Igor, einer der Aktivisten der ersten Stunde. Man habe stets nette Worte parat, aber keine echte Unterstützung. Doch Russland biete auch keine Alternative, meint er. „So müssen wir es wohl alleine packen".