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Frühstart ins Leben

Ganze 950 Gramm brachte Felix bei seiner Geburt am 28. Dezember auf die Waage. Nach nur 25 Schwangerschaftswochen kam er auf die Welt - 15 Wochen zu früh. Nun liegt der Winzling gut geschützt in seinem Brutkasten in der Neonatologie des Klinikums „Ernst von Bergmann" in Potsdam. An seinem kleinen Körper sind Sonden angebracht, die Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffgehalt des Blutes überwachen. Ein Schlauch führt durch die Nase zum Magen. Über ihn erhält Felix Muttermilch aus der Frauenmilchbank des Klinikums. 32 Grad Celsius zeigt das Display des Inkubators an, die Luftfeuchte liegt bei 70 Prozent. „Eine hohe Luftfeuchte ist wichtig, dann hält sich die Wärme besser", erklärt der leitende Oberarzt Christoph Fehlandt. Felix' Füßchen stecken in blauen Wollsöckchen. Die Krankenschwestern haben sie gestrickt.

Felix ist eines von jährlich etwa 60 000 Kindern in Deutschland, die zu früh - also vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche - auf die Welt kommen. Ein reifes Baby bringt durchschnittlich etwa 3500 Gramm auf die Waage, Frühchen dagegen meist weniger als 2500 Gramm. Sind es gar weniger als 1250 Gramm, gelten die Babys als sehr untergewichtige Frühchen, die nur in anerkannten Perinatalzentren der höchsten Versorgungsstufe behandelt werden dürfen. Diese Zentren müssen spezielle personelle und technische Anforderungen erfüllen, um zu gewährleisten, dass die kleinen Patienten optimal versorgt werden. Dank einer modernen, hoch technisierten Intensivmedizin haben Extremfrühchen ab der 24. Schwangerschaftswoche heute eine Überlebenschance von 60 Prozent.

Die Ursachen dafür, dass nahezu jedes zehnte Kind in Deutschland zu früh auf die Welt kommt, sind vielfältig. Am häufigsten lösen Infektionen während der Schwangerschaft eine Frühgeburt aus. Auch Mehrlinge kommen oft weit vor dem Geburtstermin auf die Welt. Ältere Frauen erleben häufiger Frühgeburten als junge. Doch auch soziale Verhältnisse spielen eine Rolle. „Wir beobachten zunehmend, dass Schwangere aus sozial benachteiligten Schichten Frühgeburten erleiden", sagt Professor Michael Radke, der die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Bergmann-Klinikum leitet. Gründe hierfür seien vor allem das Rauchen und die Vernachlässigung der Schwangerenvorsorge.

„Bitte leise, wir wachsen" ist auf dem Schild an der Tür zu lesen. In diesem Zimmer der Neonatologie gibt es keine Brutkästen. Die Kinder in den Babybetten haben das Gröbste überstanden. Jan Skalla sitzt am Bettchen seines Sohnes Aiden. Am 15. Februar sollte Aiden geboren werden, doch es kam anders. In der 21. Schwangerschaftswoche verspürte Janine Hackbusch plötzlich starke Schmerzen im Bauch. Durch eine Infektion des Gebärmutterhalses drohte eine Fehlgeburt. Die nächsten vier Wochen verbrachte die junge Frau liegend im Krankenhaus. Als sie hohes Fieber bekam, mussten die Ärzte handeln. „In solchen Fällen besteht für das Kind die Gefahr einer massiven Infektion. Wir müssen dann sehr schnell sein", erklärt Chefarzt Michael Radke. Aiden kam per Kaiserschnitt am 11. November 2010 zur Welt - 920 Gramm leicht und 37 Zentimeter groß.

Die medizinische Versorgung der Frühchen ist sehr aufwendig. „Große Ressourcen der Kinderklinik gehen in die Frühgeborenenbetreuung", so Professor Radke. 3700 Kinder und Jugendliche werden jedes Jahr behandelt, 220 davon auf der neonatologischen Station. Die meisten von ihnen sind Frühgeborene, etwa ein Drittel jedoch auch reife Neugeborene mit schweren Erkrankungen. „Diese 220 Kinder beanspruchen die Hälfte der Personalkapazität der Klinik", so Radke. Neonatologisch geschulte Schwestern, Kinderchirurgen, spezialisierte Kinderärzte - Frühchen benötigen Spezialisten. „Der Fachkräftemangel, den wir heute schon spüren, wird sich zukünftig noch verstärken", bedauert Radke. „Wir müssen Kompetenzen bündeln, da es in absehbarer Zeit nicht mehr genügend hochqualifiziertes Personal geben wird, um es im ganzen Land Brandenburg zu verteilen", so der Mediziner. Die Kooperation zwischen kleineren Kliniken und übergeordneten Zentren müsse daher gestärkt werden.

Aiden hatte Glück im Unglück. Bei ihm traten keine der Komplikationen auf, die das Leben eines Frühchens gefährden können. Herz und Lunge arbeiteten, es gab keine Gehirnblutungen, keine Darmverletzungen. In ein paar Tagen darf er nach Hause, wo ihn die große Schwester schon sehnsüchtig erwartet. „Dann sind wir endlich zu viert", freut sich Janine Hackbusch.

Die Mütter Mandy Volkmann und Daniela Hübsch wissen aus eigener Erfahrung: Das Leben mit einem Frühchen ist eine Herausforderung für die ganze Familie. Ihre Kinder Niclas und Leonie sind mittlerweile acht Jahre alt. Nach den ersten überstandenen Wochen im Krankenhaus füllten zahlreiche Untersuchungen und Therapien den Terminkalender aus. „Frühchen benötigen mehr Fürsorge und Förderung als andere Kinder", so Mandy Volkmann. In der Selbsthilfegruppe „Frühchentreff" des Sozialpädiatrischen Zentrums im Bergmann-Klinikum fanden die beiden Frauen Unterstützung und Hilfe. Mittlerweile organisieren sie selbst gemeinsam mit einer Sozialpädagogin die regelmäßigen Treffen, bei denen Eltern Erfahrungen austauschen und Hilfestellungen bei Anträgen oder medizinischen Fragen erhalten.

Viele Frühchen haben auch Jahre später mit den Folgen ihrer frühen Geburt zu kämpfen. Je unreifer das Kind, desto höher das Risiko für spätere Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. Ob ein Frühchen unter langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden wird, ist dabei schwer vorhersagbar. In der Frühchen-Nachsorge am Sozialpädiatrischen Zentrum des Bergmann-Klinikums werden jährlich etwa 70 bis 80 Kinder regelmäßig untersucht und bis zum Vorschulalter begleitet. Werden Defizite deutlich - etwa in der Sprachentwicklung - kann schnell und gezielt reagiert werden.

Leonie ist heute ein völlig gesundes Mädchen. Niclas hat dagegen bleibende Beeinträchtigungen: Hör- und Sehvermögen des Jungen sind geschädigt. Doch auch wenn alles etwas langsamer geht: „Niclas macht in seinem eigenen Tempo Fortschritte", so Mandy Volkmann. Sie weiß: „Ohne Intensivmedizin hätte mein Sohn nicht überlebt".

Die Überlebenschancen des kleinen Felix, der mit seinen blauen Söckchen im Brutkasten liegt, und dessen Lungen noch durch die Beatmungsmaschine mit Luft gefüllt werden müssen, sind gut. „Felix wird gesund", ist Dr. Fehlandt zuversichtlich. Doch etwa einem Drittel der Extremfrühchen, die unter 750 Gramm wiegen, kann auch die beste Hochleistungsmedizin nicht mehr helfen. Sie sterben.

„Wir haben gelernt, dass der Tod und das Sterben nicht unbedingt als Misserfolge zu werten sind. In bestimmten Fällen kann der Tod im Interesse der Kinder, und damit auch eine Erlösung sein", erläutert Fehlandt. In der neonatologischen Intensivmedizin seien die Erfolgsaussichten zudem besser als in der Erwachsenen-Intensivmedizin, so der Mediziner.

Der Verein „Das frühgeborene Kind" e.V. bietet für betroffene Eltern eine telefonische Beratung an unter der Nummer 01805-875877, dienstags und donnnerstags von 9 bis 12 Uhr.

Der Frühchentreff im Internet: www.fruehchentreff.de, Tel.: (0331) 241 59 76.

Fernsehtipp: Am 26. Januar zeigt der rbb um 20.15 Uhr die Sendung „rbb Praxis" mit einer Live-Schaltung in die Neonatologie des Bergmann-Klinikums.

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