Frau Kanbiçak, haben die Mitarbeiter des Jugendhauses Gallus im vergangenen Sommer richtig auf die Auftritte und Bedrohungen durch radikale Muslime reagiert?
Es ist fatal, dass eine Kollegin unter Druck gesetzt wurde, und ich kann verstehen, dass man sich verunsichert fühlt. Besser wäre es in Zukunft aber, solchen Machtausübungen nicht so schnell nachzugeben. Jugendliche provozieren gerne und zwar genau diejenigen, die in der Gesellschaft und im Alltag über wenig Macht verfügen. Das richtige Signal wäre, zu zeigen: Wenn ihr respektiert werden wollt, müsst ihr auch respektieren.
Was motiviert diese jungen Männer?
Sie fühlen sich in der Gesellschaft degradiert und glauben, in einer religiös-politischen Ideologie Sicherheit und Macht gefunden zu haben. Dem muss etwas entgegengesetzt werden. Die Zivilgesellschaft ist dazu aufgerufen, ihre demokratischen Rechte zu verteidigen.
Schnell war im Jugendhaus die Rede von Salafisten. Bei Ihnen klingt es so, als könnte es sich auch um orientierungslose Jugendliche in der Pubertät handeln.
Häufig sind es adoleszente Kraftproben und Machtkämpfe, die da initiiert werden. Aber natürlich muss man sich die Einzelfälle genau ansehen.
Was sehen diese Machtkämpfe und Kraftproben denn genau aus?
Jugendliche auf Identitätssuche fragen sich oft: Wie kann ich schocken? In unserer liberalen Gesellschaft ziehen Hippietum, Linksextremismus oder Punk zu sein nicht mehr. Was bleibt übrig? Zum Beispiel offen antisemitisch zu reden oder mit dem Salafismus zu flirten. Diese sich betont religiös gebende Bewegung ist eine Form des Emanzipationsprozesses einer Generation, die sagt: Wir sind anders.
Wie lässt sich in der Praxis in Jugendhäusern oder Schulen herausfinden, mit was man es zu tun hat?
Das ist schwierig. Wenn jemand extremistisch ist, wird er die Lehrer nicht schockieren wollen, sondern versuchen, unauffällig zu bleiben. Mit denen, die lauthals auf sich aufmerksam machen, muss man vorsichtig diskutieren und Gegenpositionen darstellen, ohne überzeugen zu wollen – auch durch Gespräche mit anderen Schülern.
Sollte man solche Entwicklungen also erst mal laufen lassen und beobachten?
Eine neue Kleiderordnung zeigt nicht gleich, dass jemand extremistisch geworden ist, und nicht jeder, der Sprüche loslässt, ist gleich ein Dschihadist. Pädagogen müssen ganz genau hinsehen. Es ist zwar schwierig, zu erkennen, wann Gefahr droht. Aber dann muss interveniert werden.
Inwiefern?
Zunächst sollte man den Jugendlichen Angebote machen und Möglichkeiten der Erfahrung von Selbstwirksamkeit vermitteln. Sie müssen sehen, dass sie die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz haben oder dass man sie in der Schule behalten will. Extremistische Zirkel versuchen, sie aus ihrem Umfeld zu isolieren. Das ist gefährlich. Gut wäre da auch, wenn es ein Beratungsnetzwerk zu politisch-religiösem Extremismus an den hessischen Schulen gäbe.
Welche präventiven Maßnahmen gibt es noch?
Konfessionsgebundener Religionsunterricht. Die meisten haben keine Ahnung von ihrer Religion, hatten nie einen Koran in der Hand und kennen nur die Form der Narration, die sie von irgendwelchen Predigern mitbekommen haben. Indem man den Islam als legitimes Unterrichtsfach anbietet, entzieht man dem die Basis.
Was kann man als Sozialarbeiter oder Pädagoge tun?
Die Jugendlichen brauchen einen verlässlichen Bezugsrahmen, Kontinuität und Solidarität. Unsere Gesellschaft bringt so viele Verunsicherungen mit sich. Die Unverlässlichkeit von sozialen Beziehungen ist ein Problem. In extremistischen Zirkeln bietet der Bruderschaftskontext klare Anweisungen, wie das Leben zu sein hat. Das ist für Jugendliche ein interessantes Angebot. Deswegen ist wichtig, dass wir uns in kleinen Klassen um die Schüler kümmern, und zwar über den Unterricht hinaus.
Kann von Schulen oder Jugendhäusern in diesem Kontext auch eine Gefahr ausgehen? Wenn man etwa an das Verteilen von dschihadistischem Material oder die Entwicklung von Gruppendynamiken denkt?
Auf jeden Fall. Mir hat auch schon eine Schülerin eine DVD von Pierre Vogel gegeben. Wir haben diese Gefahr lange Zeit ignoriert, auch jene, die von bereits indoktrinierten Schülern für andere ausgeht.
Was würden Sie tun, wenn sie einen solchen Schüler in Ihrer Klasse hätten?
Vorsichtig, ohne die Privatsphäre zu überschreiten, versuchen, ins Gespräch zu kommen. Pädagogen dürfen nicht über die Religion urteilen, sonst wird direkt geblockt. Man kann etwa über Schulleistungen reden. Wenn er Mitschülerinnen dazu auffordern würde, sich anständig anzuziehen, würde ich etwa in der ganzen Klasse diskutieren lassen, was dieses „anständig“ überhaupt sein soll.
Und wenn das alles nicht hilft? Man trägt mit dem Wissen über die Entwicklung des Schülers ja auch Verantwortung.
Wenn jemand gar nicht mehr zugänglich ist oder man merkt, dass innerhalb der Schulgemeinde gepredigt und missioniert wird, sollte man zunächst mit dem Kollegium sprechen, dann Beratungsnetzwerke wie Violence Prevention kontaktieren und im letzten Schritt den Staatsschutz einschalten. Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind für Pädagogen in diesem Kontext ganz wichtig. Da gibt es leider noch ein Riesenmanko.
Interview: Hannah Weiner
Türkan Kanbiçak (54 Jahre) ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet am pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums.
Dort beschäftigt sie sich mit Migration, Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus.
Außerdem ist sie Ethik-Lehrerin an der Franz-Böhm-Schule in Frankfurt und Lehrbeauftragte an der Hochschule Fulda im Fachbereich Sozialwissenschaften.