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"Frauen haben die Kraft, die AKP zu besiegen"

Die türkische Autorin und Feministin Gülfer Akkaya über den Alltag in einer gespaltenen Gesellschaft und ihre Hoffnung, dass die Wahlen die moderaten Kräfte stärken. Seit die AKP an der Macht ist, hat sich die Situation für Frauen deutlich verschlechtert. Aber sie wollen kämpfen.

Frau Akkaya, Sie sind eine unabhängige, freigeistige Frau. Fühlen Sie sich auch frei? Meine Wohnung wurde bei einer Razzia durchsucht. Es wurde versucht, mich zu verklagen und mir die Mitgliedschaft in dubiosen Organisationen nachzuweisen. Aber vor Gericht wurden die Klagen abgewiesen. Ich wurde bei dem Anschlag auf die Friedensdemonstration im Oktober 2015 in Ankara verletzt. Seitdem habe ich einen Granatsplitter in meinem Bein und werde mein Leben lang gesundheitliche Probleme haben. Journalisten, Sozialisten, Kurden, Alewiten, Demokraten, Politiker und Parlamentsabgeordnete sitzen in Haft. Wir sind mit unseren Nachbarländern im Kriegszustand. Die Gewaltpolitik der AKP hat die Gesellschaft komplett im Griff. Können wir unter solchen Umständen von Freiheit und Sicherheit sprechen?

Sie sagen ja, die gesamte türkische Gesellschaft hat sich gewandelt. Wie lebt es sich heute als Frau in der Türkei? Präsident Erdogan und seine Partei lehnen die Gleichberechtigung der Geschlechter ab. Seitdem die AKP an die Regierung gekommen ist, will sie den Frauen die Rechte wieder wegnehmen, für die sie jahrelang gekämpft haben. Wir Feministinnen haben versucht, dem etwas entgegenzusetzen. Aber je stärker die AKP wurde, desto mehr Macht hat sie, alles zu tun, was sie will. Die Türkei ist kein Sozialstaat. Deswegen sind die Frauen hier so abhängig. Wenn sie sich von ihren Männern trennen und ihre Familien sie nicht unterstützen, landen sie oft auf der Straße.

Glauben Sie dennoch an eine bessere Zukunft? Ich habe große Sorgen. Allerdings tun wir unser Bestes, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Seit 25 Jahren bin ich in der feministischen Bewegung aktiv. Obwohl uns viele unserer Erfolge nun wieder weggenommen werden, ist die Solidarität zwischen Frauen groß. Sie geben ihren Widerstand nicht auf. Die Frauen haben die Kraft, die AKP zu besiegen.

Schlägt sich die politische Atmosphäre auch in Ihrem Alltag nieder? Natürlich spiegelt sich das alles in meinem Leben. Wenn die Straßen für Frauen gefährlich sind, sind sie auch für mich gefährlich. Wenn es Frauen gibt, die angegriffen werden, weil sie kein Kopftuch tragen; die im Bus Gewalt ausgesetzt sind, weil sie kurze Hosen tragen, dann bedeutet das, dass diese Gefahr für uns alle vorhanden ist. Was unser alltägliches Leben zudem beeinflusst ist die Unsicherheit, dieses Misstrauen untereinander. Hier herrscht ein sehr militärisches Gefühl. Man kann mit Nachbarn oder Kollegen nicht mehr im Vertrauen reden. Viele, mit denen ich in den vergangenen Jahren gekämpft habe, sind entweder tot, verletzt, verhaftet oder leben im Exil. Und je mehr Menschen in Europa Zuflucht suchen, desto einsamer werden wir hier.

Wovor haben Sie Angst? Ich habe Angst vor den unsicheren Blicken der Menschen. Ich habe Angst davor, dass Mitgefühl und Liebe eine Sünde geworden sind. Ich habe Angst, dass Männer und die Staatsgewalt alles an sich reißen und vor allem, dass Frauen nicht frei leben können.

Was wünschen Sie sich für sich, Ihre Kinder und Ihr Land in Zukunft? Ich hoffe auf ein Land, in dem keiner keinem Untertan ist und in dem alle vorhandenen Identitäten frei, gleich und friedlich leben können.

Das Interview führte Hannah Weiner.

Vier Frauen aus Istanbul erzählen von ihren Ängsten, Wünschen und Hoffnungen

Eintausendneunhundertvierundsechzig. In Ziffern: 1964. So viele Frauen und Mädchen sind der Organisation „Kadin cinayetlerini durduracagiz platformu" („Wir werden die Frauenmorde stoppen") zufolge seit 2010 in der Türkei von Männern ermordet worden. 409 von ihnen starben allein im Jahr 2017.

Laut offizieller Zahlen hat sich die Situation von Frauen in der Türkei deutlich verschlechtert, seit die AKP an der Regierung ist. 2017 ist das Land im Gender Report des Weltwirtschaftsforums auf Platz 131 von 144 gelandet. 2006 waren sie noch auf Rang 105. Die Zahlen sprechen für sich: Nur rund 30 Prozent der Frauen haben einen Job, dafür verrichten sie über 75 Prozent der unbezahlten Hausarbeit. Weniger als 15 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen. In Afghanistan oder Irak sind es fast doppelt so viele.

So weit zu den Fakten. Aber was bedeutet es, als Frau in der heutigen Türkei zu leben? Dazu hat die FR vier Frauen befragt, die in Istanbul leben. Wir wollten wissen, wie sich ihr persönlicher Alltag in den vergangenen Jahren verändert hat und wie sich das Politische auf ihr Privatleben auswirkt. Fühlen sie sich heute freier als früher? Wovor haben sie Angst? Gibt es Grund zur Hoffnung? Das sind ihre Antworten:

Ceysu A., 27, Kunststudentin: Ich bin so wütend. Am liebsten würde ich alle Frauen um mich herum beschützen, die in schlechten Lebenssituationen wie Kinderehen oder Unterdrückung feststecken. Ich hatte Glück, weil ich eine schlaue und unabhängige Mutter und Oma hatte, die gute Vorbilder waren. Aber nicht alle haben dieses Privileg. In der Türkei herrscht für Frauen eine Atmosphäre der Angst. Auf der Straße fühle ich mich oft sehr unsicher, habe Angst vergewaltigt zu werden. Und die Medien verstärken das Unsicherheitsgefühl bewusst. Am 8. März, dem Weltfrauentag, kommen immer viele Mord- und Gewaltszenen gegen Frauen im Fernsehen. Ich glaube nicht, dass das Zufall war. Sie wollen uns zeigen, dass wir ständig in Gefahr sind und lieber zu Hause bleiben sollten. Der Schlüssel zur Verbesserung der Situation der Frauen ist Bildung. Deswegen ist es so schlimm, dass der Lehrapparat in der Türkei so ausgedünnt wurde. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die zukünftige Situation der Frauen in diesem Land angeht.

Canan H., 42, Cafébesitzerin: Als ich 16 Jahre alt war, bin ich von zu Hause weggelaufen, weil mein Vater mich geschlagen hat. Ich hatte einen Mann kennengelernt, den ich kurz darauf heiratete. Ich dachte, er könnte mich retten. Doch nach einer Weile fing auch er an, mich zu schlagen. Eines Tages - mein Sohn war drei Jahre alt - verletze er mich so sehr, dass ich zur Polizei gegangen bin. Der Polizist hat gesagt, ich solle wieder zu meinem Mann gehen. Damals war ich 20 Jahre alt. So passiert es hier bei uns in der Türkei ganz oft. Mein Mann hat mich weiter geschlagen. Ich habe als Reinigungskraft gearbeitet und hatte auch im Job immer Angst davor, dass Männer mich missbrauchen. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, habe meinen Sohn und einen Koffer genommen und bin zum Frauenhaus Mor Cati gegangen, wo ich eine Weile gelebt habe. Mit der Unterstützung der Regierung und einer mütterlichen Freundin habe ich vor acht Jahren meinen großen Traum von einem eigenen Café wahr gemacht. Dort veranstalten wir jetzt jede Woche ein Unterstützungstreffen für Frauen. Einen Mann habe ich derzeit nicht.

Rofaida B., 22, Wirtschafts-Studentin: Ich bin in Algerien geboren und lebe seit vielen Jahren in der Türkei. Ich finde, dass es als Frau nicht so schlimm ist wie viele denken. Viele haben eine falsche Vorstellung von diesem wunderschönen Land. Natürlich gibt es noch immer viele Probleme wie die niedrige Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen, die mit Kinderehen, Ehen generell und schlechter Kinderbetreuung zusammenhängt. Auch Gewalt spielt eine Rolle. Aber wir sollten anerkennen, dass in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht wurden. Die Dinge entwickeln sich zum Besseren. Auch wenn es natürlich viel zu tun gibt. Vor 20 Jahren zum Beispiel durften Frauen mit Kopftuch - wie ich als Muslima - nicht an die Universität gehen. Wahrscheinlich wäre ich eine von ihnen gewesen. Heute können Frauen mit und ohne Kopftuch arbeiten und studieren. Das ist großartig, weil jeder oder jede seinen oder ihren eigenen Glauben leben kann. In der Türkei sind Frauen in einer besseren Situation als in den Ländern des Mittleren und Nahen Ostens. Sexuelle Belästigung und Gewalt sind hier wenigstens strafbar.

Nazan Özcan, 40, Redakteurin bei der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet": Man könnte davon ausgehen, dass sich das Leben der Frauen in diesem Land in den vergangenen 20 Jahren verbessert hat. Doch dem ist nicht so. In der Vergangenheit wurden wir unterdrückt und werden es auch in der Gegenwart. Wir können das nun so laut sagen, weil wir nichts mehr zu verlieren haben. Außerdem sind Frauen immer furchtloser als Männer. Damit in der Zukunft keine Mädchen mehr an Gewalt durch Männer sterben müssen, lehnen sich die Frauen heute auf. Unser gesamtes Leben besteht aus Widerstand. Die Frauen leisten erst gegen Ihre Väter, dann - falls vorhanden - ihre Brüder und fortwährend gegen (männliche) Macht Widerstand. Als Journalistin in der heutigen Türkei zu arbeiten, bedeutet bei minus eins zu beginnen denn egal wie erfolgreich Frauen in ihrem Job sind, sie bleiben immer in den mittleren Positionen. Sowohl in den regierungsfreundlichen als auch in den oppositionellen Medien gibt es unter all den Männern höchstens ein oder zwei Redaktionsleiterinnen. Journalistin zu sein bringt sowohl im Innen- als auch im Außendienst Nachteile mit sich. Wenn du als Reporterin draußen unterwegs bist, lässt man dich spüren, dass du eine Frau bist. Manchmal nutzen Menschen ihre physische Kraft, um dich am Gespräch mit jemandem oder am Schießen eines Fotos zu hindern. Auch Polizisten denken, sie hätten das Recht, dich schlecht behandeln zu dürfen. Im Innendienst sieht es nicht besser aus. Frauen sind ständigem „Mansplaning" ausgesetzt. Man geht davon aus, dass sie nichts von Politik oder Wirtschaft verstehen. Lediglich Berichte zu Bildung, Gesundheit, Kindern, Kultur, Kunst sowie zur Regenbogenberichterstattung seien für sie geeignet. Redakteurinnen verdienen auch immer weniger als Redakteure. Unter Bewerbern wird der männliche bevorzugt. Bei Redaktionssitzungen gilt das Wort eines Mannes mehr als das einer Frau. Die Frauen aus Deutschland sollten dennoch kein Mitleid haben; sie sollten vielmehr zeigen, dass sie mit uns solidarisch sind. Wir leisten hier Widerstand und werden das auch in Zukunft tun.

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