Die Kräfte an der Macht - dazu gehören die konservativ-rechtsextreme Regierungskoalition von GERB und den »Vereinigten Patrioten«, aber auch die BSP - machen sich zunehmend Sorgen darüber, wie der Status quo aufrechtzuerhalten ist. Mit der Debatte um die Istanbul-Konvention konnten sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung von sich auf eine vermeintliche Bedrohung von außen umlenken. Sie schürten die Idee einer Verschwörung gegen die bulgarische Gesellschaft unter der Führung ausländischer Mächte, eine »Gender-Invasion«. Ende Juli hat das Verfassungsgericht entschieden, dass die Konvention nicht mit der Verfassung vereinbar ist. Dass die Bevölkerung grundsätzlich unzufrieden ist, zeigt sich auch in den aktuellen Protesten gegen die Preissteigerungen bei Kfz-Versicherungen und -steuern.
Wie konnten sie diese Deutung der Konvention durchsetzen?
Die Konservativen haben queere Menschen benutzt, um einen Feind zu
schaffen, gegen den sich die Unzufriedenen in der Bevölkerung
mobilisieren lassen - mit extremen Formen von Nationalismus. Ihr
Kreuzzug ging so weit, dass ernsthaft diskutiert wurde, ob die
Istanbul-Konvention die »traditionelle bulgarische Familie« durch die
Einführung eines dritten Geschlechts zerstören würde. Hilfreich war
dabei ein Missverständnis um den Genderbegriff, der im Text der
Konvention vorkommt. Eine direkte Übersetzung von »Gender« ins
Bulgarische gibt es nicht, viele Menschen bringen den Begriff nicht mit
häuslicher Gewalt, sondern mit LGBTQ-Themen in Verbindung.
Die Assoziation des Industriekapitals in Bulgarien (BICA) will, dass der Zeitraum für den Mutterschaftsurlaub reduziert und die Höhe des Entgelts gesenkt wird. Bestärkt hat sie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, in der argumentiert wurde, dass Elternzeit keine Arbeit ist - da begann der Angriff. In Bulgarien gibt es noch das Recht auf eine verhältnismäßig lange bezahlte Elternzeit. Zuerst wurde eine Kürzung des Anspruchs gefordert, dann eine Verringerung der Zahlungen im ersten Jahr und jetzt geht es darum, dass der Mutterschaftsurlaub auf die Urlaubstage angerechnet wird. All das zielt darauf ab, dass die Frauen nach der Geburt schneller wieder arbeiten gehen.
Was hat das mit dem 25. November zu tun, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen?
Viele Mütter sind bereits jetzt arm. Was sie im ersten Jahr bekommen,
bemisst sich am Bruttoentgelt der letzten zwei Jahre. Wer davor
arbeitslos war oder illegal gearbeitet hat, erhält sehr wenig Geld. Im
zweiten Jahr bekommen die Frauen derzeit umgerechnet um die 160 Euro pro
Monat, ein lächerlicher Betrag. Der Angriff auf den Mutterschaftsurlaub
macht Müttern die Mittel zur sozialen Reproduktion streitig: Zeit und
Geld. So kann sich die ökonomische Abhängigkeit von Männern verstärken,
die wiederum bei Gewalt gegen Frauen eine Rolle spielt. Und die gibt es
auch in Bulgarien: 2018 gab es 22 Frauenmorde.
Protest:
Montag, 26. November, 18 Uhr, Bulgarische Botschaft, Leipziger Straße 24
Zur Person
Raia Apostolova ist Mitglied des linken feministischen Kollektivs
LevFem in Sofia. Sie hat in Soziologie und Sozialanthropologie
promoviert. Mit ihr sprach für »nd« Hannah Schultes. Foto: privat