Mit einer Villa hatten sie wirklich nicht gerechnet. Als der Berliner Lyriker und Essayist Max Czollek und der Pianist Daniel Gerzenberg vor ein paar Wochen in Heidelberg aus dem Zug stiegen, erwarteten sie eine kleine Wohnung, ein Airbnb für ein paar Tage und Nächte. Das vierstöckige Haus direkt am Neckar mit Flügeltüren und meterhohen Decken aber, mit drei Balkonen und eigenem Zugang zum Philosophenweg - man hätte beim Betreten ihre Gesichter fotografieren sollen. Die Unterkunft, gestellt vom Festival, versprüht die Aura eines Irving-Hotels. Die luxuriösen Räume: ein Symbol für die reaktionäre Klassik-Welt, in der die beiden Künstler ihre Sprengsätze platzieren sollten.
Heidelberg ist ein Hort der Philanthropen und Vermögensmillionäre, eine Stadt des Mäzenatentums. Gerüchte besagen, die Alliierten hätten dort keine Bomben abgeworfen, weil sie es in den Gassen so schön fanden. Und erst Eichendorff, von Arnim oder Clemens Brentano! Welcher Ort könnte besser versprechen: Hier ist alles gut und heil! Jahr für Jahr pilgern mehrere Tausend Menschen zum Festival Heidelberger Frühling, um mit Blick ins Grüne klassische Musik zu genießen. Eine Erfolgsgeschichte.
"Es sind schon gewisse Leute, für die Klassikfestivals bislang ihr Programm machen", sagt Max Czollek bei einer Apfelschorle am Villen-Esstisch. "Das sind, zugespitzt gesagt, bürgerliche, wohlhabende Westdeutsche. Wenn ich mich so in meinem Freundeskreis umgucke, ist dieses Programm jedenfalls nicht für meine Umgebung bestimmt." Man merkt, er hat Lust zu stören. Der klassische Kanon, der auch bei einem ästhetisch offenen Festival wie dem Heidelberger Frühling im Zentrum steht, schließe nicht nur viele aus, sagt Czollek, er erzähle vor allem eine Menge über die Gesellschaft, die ihn seit Generationen unangetastet wissen will: "Das deutsche nationale Selbstverständnis ist gar nicht vorstellbar ohne die Idee kultureller Überlegenheit. Literatur, Musik und Malerei haben den deutschen Nationalismus ästhetisch vokabularisiert."
Warum will das Publikum immer die gleichen Lieder hören?Mit der vierteiligen Reihe Lieder für das Jetzt, die Czollek in diesem Jahr gemeinsam mit Daniel Gerzenberg kuratierte, stellte der Schriftsteller hauptsächlich eine Frage: Was bringt das Klassik-Publikum dazu, immer die gleichen Lieder hören zu wollen? "Was suchen Sie hier?", fragte Czollek das Publikum direkt am ersten Abend Ende März. "Sie suchen doch etwas, oder nicht?" Der Raum blieb still, die Antwort gab Daniel Gerzenberg am Flügel, mit einer Variation über das Klaviervorspiel von Gute Nacht aus Schuberts Winterreise.
Die einen dachten da sicher an Dietrich Fischer-Dieskau, den Liedsänger aller deutschen Liedsänger. Andere dachten wohl eher an Worte der afrodeutschen Dichterin May Ayim: "deutschland im herbst mir graut vor dem winter". Beides steckte drin in den ersten Akkorden dieses Abends. Immer wieder zerlegten Gerzenberg, Czollek, die Mezzosopranistin Hagar Sharvit und die Klangkünstlerin Martine-Nicole Rojina auf der Bühne das gewohnte Geschehen. Sie lasen Texte über der Musik, brachen Lieder mittendrin ab oder überdröhnten alles mit Elektronikdonner. So klar die Form dieses ersten Abends war, so sehr löste sie sich über die vier Festivalwochen auch wieder auf. Am Ende improvisierten der Schriftsteller Jan Kuhlbrodt, der Sounddesigner Simon Stockhausen und Daniel Gerzenberg über einzelne Verse aus ausgewählten Liedern. Die Sängerin Sophia Burgos zitierte flüsternd aus Schuberts Heidenröslein oder aus Der Tod und das Mädchen. Verstörend. Ja, diese Lieder beschreiben Vergewaltigungsfantasien. "Warum genießen wir das?", fragt Max Czollek mich auf dem Heimweg.
Die Antwort liegt einem alt und auswendig gelernt auf der Zunge: Weil es eben Kunst ist, oder nicht? Für Czollek geht diese Rechnung aber nicht auf: "Wenn es darum geht, den Ort des guten Deutschlands zu definieren, dann sagt man: Die Politik ist böse, die Kunst ist gut. Und das funktionierte letztlich nur in dem Rezeptionsraum nach 1945, in dem Deutschsein auch hieß: nichtjüdisch, nichtmigrantisch. Man brauchte einen relativ geschlossenen Begehrensraum, der nicht gestört wurde durch andere Perspektiven. Das war die Voraussetzung, um die Fantasie einer Kunst als autonomer, kontextloser Ort neu zu erfinden."