Als sich Ende Februar der Zoom-Raum für unser Gespräch öffnet, ist Golda Schultz schon da. Hinter ihr erstrecken sich im virtuellen Fotopanorama die sonnigen Hinterhöfe einer Stadt.
DIE ZEIT: Interessanter Hintergrund! Ist das vielleicht ?
Golda Schultz: O nein, das ist Barcelona. Ich liebe Spanien! Als ich meinen Mann kennengelernt habe, habe ich gesagt: Wenn ich wegen meines Jobs nicht nach zurückziehen kann, dann muss ich wenigstens in einer ähnlichen Klimazone leben. Irgendwo, wo es guten Wein und gutes Essen gibt. Und viel Sonne.
ZEIT: Jetzt leben Sie aber in Augsburg.
Schultz: Ja, aber wegen eines Umzugs sind alle meine Noten gerade eingelagert, und weil alles so lange dauert, musste ich Mozarts Nozze di Figaro in New York letztens auswendig proben ...
ZEIT: Besitzen Sie denn nur diese eine Ausgabe der ?
Schultz: Ja! Seit 2009 singe ich aus dem gleichen Klavierauszug, er ist schon komplett zerfleddert und kaputt - voller Kaffee- und Essensflecken und durch meine Notizen so verkratzt und zugekrakelt, dass man kaum noch darin lesen kann. Aber ich gebe ihn nicht her. Ich gehe immer wieder mit Tesafilm dran und klebe und flicke, wenn es sein muss.
ZEIT: Wie oft haben Sie Mozarts Le nozze di Figaro gesungen?
Schultz: Oh, sehr oft! Es ist die Oper, mit der ich meine Karriere begonnen habe! Trotzdem sehen alle meine Klavierauszüge so aus, Rosenkavalier, Carmen, Die Karmelitinnen, L'elisir d'amore, Turandot. Jeder Moment, jeder Gedanke zu diesen Stücken steht in diesen Auszügen. Wenn mich jemand ausrauben und sie mir stehlen würde, ich glaube, dann müsste ich sterben.
ZEIT: Worin liegt für Sie der Reiz, wenn man einzelne Werke oder Rollen so gut kennt, sie wieder und wieder zu interpretieren?
Schultz: Es ist nie dieselbe Rolle! Jede Inszenierung, jede Produktion ist anders - und die Welt verändert sich, und ich verändere mich auch. Mit einem Charakter zu leben und sich sozusagen gemeinsam zu entwickeln ist total schön. Ich frage mich bei jeder Rolle: Habe ich etwas über diese Figur zu sagen, habe ich eine Meinung zu ihr? Und wenn ja: Hat schon jemand vor mir diese Perspektive eingenommen, und zwar konsequent bis zum Ende? Das meine ich nicht als Kritik an meinen Kolleginnen, sondern ich sage das im Wissen, dass jede von uns immer nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen kann - wir arbeiten ja nicht in einem Vakuum. Wenn ich diese Frage mit Nein beantworten kann, habe ich zu der Rolle etwas zu sagen. Und dann ist es mein Job, den Regisseur und den Dirigenten davon zu überzeugen.
ZEIT: Die ihre eigenen Vorstellungen von dem Stück haben! Bis vor nicht allzu langer Zeit galten viele Dirigenten und Regisseure in der Arbeit als Despoten. Haben Sängerinnen heute ein anderes Selbstbewusstsein?
Schultz: Ich versuche natürlich, diplomatisch zu sein: Komme ich dir entgegen, kommst du mir ein wenig entgegen. Oper ist doch eine kollektive Arbeit. Ja, Regisseure und Regisseurinnen wollen auf der Bühne eine Geschichte erzählen, aber sie arbeiten dabei nicht mit Puppen. Wir Sänger sind Menschen und haben Meinungen und arbeiten genauso hart wie sie, um eine gemeinsame Welt zu schaffen.
ZEIT: Und wenn sich jemand partout querstellt?
Schultz: Niemand sollte starrköpfig sein. Für mich heißt das nämlich: Du willst offenbar eine Insel sein, und das ist schade. Du willst bei dir sein, aber nicht bei uns. Denn die Utopie der Oper besteht in der Zusammenarbeit. Oper ist vor allem soziale Arbeit, Oper ist ein soziales Experiment.
ZEIT: Das soziale Experiment kennt auch aktuelle Konflikte. Rollen in inhaltlich problematischen Kontexten zum Beispiel, Rollen wie Bizets Carmen: eine Frau, die sie selbst sein will und dafür von einem Mann umgebracht wird. Es gibt Stimmen, die sagen, solche überholten Geschlechterverhältnisse sollten wir aus dem Kanon streichen.
Schultz: Wir sprechen so viel über schwierige Frauenrollen - aber was ist mit den Männerrollen? Sind die Männer in dieser Geschichte nicht problematisch? Carmen lebt in einer Welt, in der die Männer denken, sie könnten jede Frau haben - das Problem liegt also nicht bei ihr. Überhaupt errichten viele Komponisten Welten, die für Frauen sehr scary sind. Würden wir das in unseren Interpretationen so zeigen, kämen wir auf ein ganz anderes Niveau im kritischen Gespräch darüber.