Frau Holsten, in den sozialen Medien nutzen Eltern Bildmaterial von ihren Kindern, um Geld zu verdienen oder eine große Reichweite zu bekommen. Inwieweit verletzten diese Bilder die Persönlichkeitsrechte von Kindern?
Cornelia Holsten: Zunächst einmal: Kinder sind etwas Tolles. Es ist auch richtig und gut, dass sie im Netz vorkommen, denn was nicht im Netz vorkommt, existiert quasi nicht in unserer sichtbaren Welt. Alle Eltern sind zu Recht unfassbar stolz auf ihre Kinder, da sind Influencer-Eltern keine Ausnahme. Kritisch wird es, wenn Kindheit kommerzialisiert wird. Es gibt zwar kein Gesetz, das sagt: Kinderfotos sind im Netz verboten, wenn sie kommerziell sind. Aber Arbeit unter dreijährigen Babys ist beispielsweise gesetzlich untersagt.
Bei der Altersgrenze von drei Jahren verläuft also eine rote Linie?
Es kommt darauf an, ob es sich um Kinderarbeit handelt. Also ob das ein Schnappschuss in einer natürlichen Lebensäußerung ist, wenn zum Beispiel das Kind auf der Schaukel sitzt. Oder ob das Ganze eben im Bereich des professionellen Influencer-Marketings inszeniert ist, sodass es mehrere Shootings gibt und mehrere gestellte Fotos aufgenommen werden.
Warum gibt es kein Gesetz, das kommerzielle Kinderfotos im Netz verbietet?
Das Jugendarbeitsschutzgesetz wurde 1976 geschrieben, da gab es nicht mal Smartphones. Es gab damals keine Influencer-Eltern, die ihre Babys hätten kommerzialisieren können. Zum Vergleich: Auch auf jeder Babybreipackung oder Windelpackung ist ein Baby abgebildet. Das ist kein Problem, weil diese Kinder nicht identifizierbar sind. Da gibt es überhaupt keine Biografie, die im Netz beginnt. Es ist nicht klar, wie das Kind heißt oder wo es wohnt. Das sind alles Dinge, die bei Influencer-Eltern häufig anders gelebt werden. Da wissen wir oft, in welcher Stadt sie leben, wie die Straße heißt, mit welchen Möbeln sie das Kinderzimmer eingerichtet haben und wie eben das Kinderzimmer aussieht.
Wann ist Kinderarbeit erlaubt?
Grundsätzlich ist Kinderarbeit für alle unter 15 Jahren verboten. Davon werden aber Ausnahmen gemacht, die sich nach dem Alter richten. Schon bei Kindern ab drei Jahren ist Arbeit in bestimmten Grenzen erlaubt. Drei- bis Sechsjährige dürfen beispielsweise zwei Stunden täglich im Zeitraum von 8 bis 17 Uhr arbeiten. Das betrifft zum Beispiel Kinderschauspieler.
Influencer-Eltern verbreiten oft unwissentlich Informationen über ihre Kinder im Netz. Inwiefern verstößt das gegen Datenschutz?
Teilweise wird vertreten, dass Eltern erforderliche Datenschutzzustimmungen nicht wirksam für ihre Kinder geben können, weil das automatisch ein Verstoß gegen die elterliche Fürsorge wäre. Nun muss man feststellen, dass die Landesdatenschutzbehörden, das offenbar nicht so sehen, sonst wären sie schon tätig geworden. Ich denke, dass Influencer und Influencerinnen tolle Eltern, aber teilweise nicht gut aufgeklärt sind. Sie überblicken häufig nicht die Folgen von Kinderfotos im Netz.
Was genau sind die negativen Konsequenzen für Kinder?
Das größte Problem ist, dass die Individualität vollständig preisgegeben wurde. Wenn klar ist, wo man wohnt, wie man heißt, wie die ersten Schritte waren, wann das erste Mal die Zahnfee kommt. Wenn alles im Netz öffentlich sichtbar ist, bleibt nichts mehr im Privaten. Das ist vielen Eltern häufig gar nicht bewusst.
Worauf sollten Eltern achten, wenn sie Bilder von ihren Kindern posten?
Eltern können auch zeigen, dass sie stolz auf ihre Kinder sind, wenn sie zum Beispiel ein Foto von den Füßen posten. Es muss ja nicht das Gesicht sein. Bei der Einschulung können sie zum Beispiel eine Schultüte ohne das Kind fotografieren. Es ist wichtig, Eltern über die Gefahren aufzuklären und Alternativen aufzuzeigen.
Kinder wollen ihren Eltern gefallen und befinden sich in einer Abhängigkeit zu ihnen. Wie kann von außen in dieses Schutzverhältnis eingegriffen werden?
Ich glaube, dass wir hier nicht über Verbote, sondern über Aufklärung sprechen sollten. Ich kenne keinen erwachsenen Menschen, dem es lieb gewesen wäre, wenn bei seinem ersten Vorstellungsgespräch, Töpfchenfotos im Netz öffentlich auffindbar gewesen wären. Das muss man sich nur einmal vergegenwärtigen, dann wird das eine Mama-Influencerin auch nie wieder tun. Häufig ist es so, dass Influencer, die ihre Kleinkinder zeigen, schon lange davor Influencer waren. Das verleitet dazu, dass die Selbstreflexion nachlässt. Ich glaube, dass die Reflexion bei der Mediennutzung viele Aha-Erlebnisse auslöst.
Viele Kinder folgen den Spuren der Eltern und werden selbst im frühen Alter zu Influencern. Gibt es ein Gesetz, das Kinder davor schützt, sich selbst zu kommerzialisieren?
Wenn Kinder selbst zu Influencern werden, gibt es eine gesetzliche Regelung für Werbung, die sich explizit an Kinder richtet. Da sind Kaufappelle untersagt. Das betrifft zum Beispiel Kanäle, auf denen Kinderspielzeug getestet wird – hier haben Kaufappelle nichts zu suchen.
Die Hürden, dass Kinder Videos von sich hochladen, werden durch Formate wie Tiktok immer niedriger. Wie können Kinder besser für die negativen Konsequenzen sensibilisiert werden?
Auch da müssen in erster Linie die Eltern sensibilisiert werden, damit sie überhaupt wissen, was ihre Kinder im Netz tun. Viele Eltern sind eher überrascht, wenn sie von Nachbarn angesprochen werden: "Ich habe dein Kind auf Tiktok gesehen." Und man darf nicht vergessen, dass man auf Tiktok zum Beispiel ein Mindestalter von 13 Jahren haben muss. Das sollten die Eltern wissen. Eltern sollten sich unbedingt für die Mediennutzung ihrer Kinder interessieren, auch wenn sie sich vielleicht gar nicht vorstellen können, wie faszinierend Tiktok sein kann.
Inwieweit können Schulen auch Aufklärungsarbeit übernehmen?
In unserer Arbeit mit Kindern spielt das Thema Selbstinszenierung im Netz eine große Rolle. Es gibt Filter. Nicht alles, was man im Netz sieht, ist echt. Wir geben zum Beispiel unter dem Titel "#Fake #Selfie" mit der Kunsthalle zusammen Workshops, die genau dieses Selbstinszenierungsbild zum Gegenstand haben und die werden immer sehr gut besucht. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin eine Pose, die sie oder er schon oft auf Instagram gesehenen hat, selbst ausprobiert und feststellt: So kann man gar nicht natürlich sitzen, beeindruckt das die Kinder schon. Nichts entlarvt so sehr, wie die Reflexion der eigenen Mediennutzung.
Wer schlägt bei Inhalten Alarm, die eine Grenze verletzen?
Die Medienanstalten haben unter anderem die Kommission für Jugendmedienschutz als Organ. Das heißt, wir überwachen die Vorgaben aus dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag. Da es keine einschlägige gesetzliche Regelung gibt, die unmittelbar für Kinder- oder Baby-Influencer greift, kann es auch keine Behörde geben, die das überwacht. Wenn überhaupt wäre das aktuell Aufgabe der Jugendämter, weil es als Kinderarbeit gewertet werden könnte.
Was können Nutzer tun, denen grenzwertige Bilder von Kindern auffallen?
Der wirksamste Schutz gegen kommerzialisierte Kinder-Postings wäre, wenn sie keine Likes mehr bekommen. Das Zweitbeste wäre, anstelle eines Likes, eine Nachfrage: Muss das so sein? Warum geht das nicht anders?
Die Community mit ihren Likes trägt also auch Verantwortung?
Wir stellen auch da ein Umdenken fest. Beim Posting wird das Kind auf dem Waldweg zum Beispiel nicht mehr unbedingt von vorne, sondern von hinten fotografiert. Oder bei einem Bild zum Thema Kinderernährung liegt der Fokus mehr auf dem Produkt als auf dem Kind. Wenn der alte Satz: "Kinder und Tiere lassen sich gut klicken" widerlegt würde, wäre das der beste Schutz für die Kinder.
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