Die wichtigsten Ereignisse der Nacht stehen in einem roten Kalender, den Lamei Zuo zu Beginn ihres Frühdienstes aufschlägt: Ein Bewohner hatte Krampfanfälle, bei einer anderen Bewohnerin soll das Medikament anders dosiert werden. Und noch ein anderer kann nur noch mit der Hilfe von zwei Pflegekräften gedreht werden. Dann beschriftet sie ein neues Medikament mit dem heutigen Datum und dem Namen der Person, für die es bestimmt ist, heftet sich selbst eine Rückenbandage um die schmale Hüfte und beginnt mit dem wichtigsten Teil ihrer Arbeit: der Pflege.
"Meine Tour sind fünf Leute", sagt Zuo am frühen Morgen in der Stiftungsresidenz Marcusallee im Bremer Stadtteil Horn. Die 47-Jährige trägt pinke Reebok-Turnschuhe und joggt beinahe über den gelben Linoleumboden des Pflegeheims. Für jede Person gibt es nur begrenzt Zeit.
Um sieben Uhr klopft Zuo an die erste Zimmertür. Silberne Weihnachtssterne baumeln an ihr herunter. "Guten Morgen!" Ihre Stimme klingt laut und deutlich unter der FFP2-Maske hindurch. "Wie war die Nacht?" Zuos Handgriffe sind eingespielt. "Helfen Sie mir kurz, dass Sie nach oben kommen... – eins, zwei, drei." Einen Bewohner zu mobilisieren bedeutet, der Person vom Bett in den Rollstuhl und dann ins Bad zu helfen. Wenn dieser Prozess nicht alleine mit Körperkraft zu bewältigen ist, kommt auch mal ein Stehlift zum Einsatz.
Vor etwa zwei Jahren hat sich Zuo die erste Schmerzspritze vom Arzt geben lassen. "Ich habe Probleme mit dem Rücken", erzählt sie. Die Schmerzen seien in den vergangenen Jahren heftiger geworden, trotz wöchentlichem Rückentraining und Yogakurs. Das medizinische Korsett hilft ihr, durch den Tag zu kommen.
Regelmäßig klingelt ein Telefon, das an Zoes weißer Arbeitshose baumelt. Bewohnerinnen, die Hilfe benötigen, machen auf sich aufmerksam. Sie muss dann schnell überlegen: Wer braucht meine Hilfe am dringendsten? "Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen und denke, warum hast du keine vier Hände?"
Zuo
betritt bereits das nächste Zimmer. "Guten Morgen! Heute werden Sie
geduscht. Haben Sie das verstanden?" Als sie das Badezimmer wieder
verlässt, laufen ihr Schweißperlen über das Gesicht. Sie fächelt sich
Luft zu und murmelt: "Der Wasserdampf. Das ist sehr anstrengend mit der
Maske." Sie muss sich konzentrieren und die Bewohnerin schnell
abtrocknen, eincremen, anziehen und wieder ins Bett bringen, damit sie
nicht auskühlt.
Nicht immer spielen alle Bewohner mit. "Manche tun sich mit dem Duschen schwer, dann muss ich ihre Ängste verstehen und versuchen, zu überzeugen." Wenn ein Bewohner aber partout das Duschen ablehne, dann komme Plan B: "Ich wasche dann von Kopf bis Fuß." Und wenn dann immer noch ein Nein kommt? "Dann zumindest den Popo, die Zähne und die Hände sauber machen." Wenn alles nichts hilft, wendet sich Zuo an ihre Kollegin: "Kannst du bitte mal gehen. Ich war schon achtmal drin."
Oft geht es aber auch nur darum, Trost zu spenden. Zeit bleibt dafür in der Regel kaum. Doch Zuo hat Prioritäten: "Meine Bewohner sind immer an erster Stelle. Wenn ich sehe, dass jemand alleine sitzt und traurig aussieht, dann gehe ich hin und tröste." Ihr ist es wichtig, eine Beziehung aufzubauen. Vier Wochen dauert es im Schnitt, bis sie eine Person besser kennt. "Ich möchte die Menschen richtig kennenlernen. In einem Heim hast du im Gegensatz zum Krankenhaus immer eine feste Beziehung zur Person."
Mit 28 Jahren ist Zuo aus China nach Bremen gekommen. "Als der Euro eingeführt wurde", erinnert sie sich zurück, also vor 20 Jahren. Von ihrem damaligen Mann erwartete sie kurze Zeit später ein Kind. Sie entschied sich, in Deutschland zu bleiben. "Hier ist mein Leben und hier ist mein Kind geboren", sagte sie sich damals. Es war keine leichte Entscheidung – die Essgewohnheiten und die deutsche Sprache machten ihr zu schaffen. Sie war schüchtern. Dann trennte sie sich von ihrem Mann und musste als Alleinerziehende für sich und ihren Sohn sorgen.
Sie lernte deutsch, das Jobcenter riet ihr zur Altenpflege. Kurz darauf begann sie bei der Bremer Heimstiftung eine dreijährige Ausbildung zur Pflegefachkraft. Während ihr Sohn in der Schule war, ging sie zum Frühdienst. Einmal schickte sie ihn mit dem bücherbepackten Tornister zum Wandertag. Sie lacht heute über diese Zeit. Zuo leitet die Station auf der zweiten Etage mit 24 intensiv pflegebedürftigen Menschen. Als Praxisanleiterin arbeitet sie zudem neue Schüler und Schülerinnen von der Bremer Heimstiftung ein. "Ich gebe diesen Beruf gerne weiter", sagt sie.
Zuo streift sich blaue Einweghandschuhe von den Fingern, wirft sie in eine der drei mobilen Mülleimer, die sie hinter sich herzieht, und verteilt anschließend Desinfektionsgel auf ihren Händen. Hygiene ist in der Coronazeit noch wichtiger geworden.
Einige Bewohner sind schon auf dem Weg zum Speisesaal, deswegen muss Zuo sich jetzt um die Medikamente, die beim Essen eingenommen werden, kümmern. In einer verschlossenen Kammer befüllt sie kleine rote Plastikbecher mit Tabletten. Sie zählt die Pillen auf Chinesisch ab. "Das muss ich machen", verrät sie schmunzelnd. Sie kennt die genaue Dosierung für alle ihre Patienten und gleicht sie am Ende noch einmal mit einer Liste ab. Manche bekommen die Pillen gemörsert. Dazu befüllt Zuo je einen Plastikbeutel mit einer Tablette und presst sie in einem speziellen Gerät zu Pulver. Dabei schüttelt sie leicht den Kopf: "Das ist viel zu viel Müll." Zuo will die Beutel abschaffen. Sie selbst fährt ein Elektroauto und plant, in Solarzellen zu investieren.
Für die Menschen, die Zuo pflegt, ist die Residenz die letzte Station im Leben – und Zuo manchmal die engste Vertraute. Der Tod kann immer und überall eintreten. Zuo weiß das. In der Ausbildung wird sie darauf vorbereitet. Sie redet nun etwas langsamer: "Mir ist es wichtig, dass die Menschen hier in Würde sterben können, ohne Angst und mit viel Ruhe." Immer wenn ein Bewohner "gegangen" sei, trage sie ein paar Abschiedsworte in ein Buch ein. Auch ihre eigene Betrachtung hilft beim Abschied: "Ich sage immer: es gibt die Geburt, das Leben und das Sterben."
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