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Mo-Magazin (1)

1. Mai, Tag der Arbeit, auch dieses Jahr wieder. Wahrscheinlich ist es der Tag im Jahr, an dem die sozialdemokratischen und linken Parteien in ganz Europa die Parole der Solidarität abstauben und auf ihre Fahnen heften. Strahlender Sonnenschein lässt die Menschen ins Freie strömen. Der 87-jährige Pensionist Friedrich P. sitzt auf einer Parkbank in Ottakring und liest Zeitung. Darauf angesprochen, wie er die Politik heute wahrnimmt, wirkt er enttäuscht. Wählen geht er nicht mehr, sagt er. „Das hätte keinen Sinn. Früher hab' ich die Roten gewählt. Der Schärf war noch ein echter Sozialdemokrat, der hat die Solidarität noch in den Mittelpunkt gestellt. Aber die Zeiten sind vorbei." Nicht nur Herr Friedrich wirkt so, als wäre das Gefühl von Zusammenhalt schon einmal stärker ausgeprägt gewesen. Werte wie Anteilnahme und die Solidarisierung mit anderen scheint aus der Mode gekommen. Wenn man die Menschen auf der Straße fragt, ob es eine Partei gibt, bei der sie ihre Vorstellungen von Solidarität wieder finden, will niemand eine konkrete Antwort geben. Roland, ein ausgebildeter Hotel- und Gastgewerbeassistent glaubt, dass keine der Parteien den ÖsterreicherInnen wirklich gute Dienste leisten würde. „Es gibt immer irgendetwas, das einfach nicht dazupasst", meint der 29-Jährige über deren Ausrichtung. Bei der SPÖ ortet er Solidarität in Fragen der Einbürgerung, „aber sie ist dann wieder nicht solidarisch mit Herrn oder Frau Österreicher." - Statistisch gesehen, sind allerdings die Einbürgerungen gegenüber 2005 um 25 Prozent zurückgegangen. Andrea, eine 24-jährige Anthropologin will sich zum Thema Politik gleich gar nicht äußern. Auf Parteien angesprochen erwidert sie nur knapp: „Sag ich nichts dazu." Erich hingegen hat eine Meinung. Der 38-jährige Unternehmer ist überzeugt, dass die Parteien unehrlich sind, genau das Gegenteil davon machen, was sie versprechen. „Freunderlwirtschaft und Schiebereien", fallen ihm als Stichworte spontan ein. Es scheint so, als würde sich noch kaum jemand durch die bestehenden Parteien vertreten fühlen.

Beunruhigende Anzeichen

Die Europäische Wertestudie (EVS), die alle neun Jahre das persönliche Wertempfinden und die Einstellungen gegenüber Mitmenschen abfragt, zeigte zuletzt, dass MigrantInnen und Randgruppen in Österreich dermaßen stark abgelehnt werden wie in keinem anderen Land Europas. Was das europäische WissenschafterInnen-Team zu Themen wie Politik, Arbeit, Familie oder Migration an Ergebnissen zutage gefördert hat, klingt beunruhigend. Insbesondere das Thema der Zuwanderung, von der oppositionellen Haider-FPÖ politisch aufmunitioniert und während der rot-schwarzen und schwarz-blauen Regierungskoalitionen in Gesetze gegossen, hat Realitäten geschaffen. Völlig unterschiedliche Begriffe wie Zuwanderung und Asyl werden in der Wahrnehmung der BürgerInnen wild vermischt. Das Ressentiment scheint oftmals die öffentlichen Debatten zu regieren. Roland versucht zu differenzieren. „Mit Flüchtlingen sollte man sich auf jeden Fall solidarisch zeigen, die können ja nichts dafür. Wenn sie zum Beispiel politische Flüchtlinge sind, Kriegsflüchtlinge, dann sollte man ihnen zumindest ein besseres Leben geben." In diesem Punkt ist sich Roland sicher. Der 29-Jährige arbeitet als Servicemitarbeiter in der Gastronomie. Es scheint, als hätten persönliche Kontakte seine Wahrnehmung geschärft. Er erzählt von einem irakischen Gast, der zwar kein Flüchtling, sondern auf Urlaub in Österreich war. Aber, im Gespräch hätte er schon einen Eindruck davon bekommen, wie die Verhältnisse im Irak so sind. Andrea, die Anthropologie-Studentin, erklärt, dass es für sie keine Länder- und Kulturgrenzen gibt, weshalb sie gegenüber allen Menschen solidarisch sei. Sie findet es interessant und teils nachvollziehbar, warum ÖsterreicherInnen Abneigung gegenüber MigrantInnen hätten. „Angst" stecke oft dahinter, weshalb es wichtig sei, dass man sich politisch engagiere, um diese Ängste zu thematisieren. Für Erich ist das alles „eine wahnsinnig schwierige Frage." Er zündet sich erstmal eine Zigarette an, nimmt einen Zug und fügt dann hinzu: „Generell sollte man solidarisch sein, sofern es politisch verfolgte Menschen sind und keine, die aus den falschen Gründen diesen Staat in Anspruch nehmen." Die falschen Gründe hat er trotz des schwierigen Themas überraschend rasch parat. „Das Problem ist, dass der Ausbildungsstandard der Leute immens niedrig ist, und wir in Österreich für so viele ungebildete Leute nicht genügend Jobs haben. Das ist halt einfach so."

Dennoch sind sich alle einig: Gegenüber Flüchtlingen soll man sich solidarisch zeigen. Und wenn es zu einer Abschiebung kommt? Soll man dann Solidarität entgegenbringen? „Naja, was hat er denn gemacht, dass er abgeschoben wird?" Wie vorbereitet sprudeln die Worte aus Roland heraus. „Wenn ich in ein anderes Land gehe, kann ich nicht kriminell werden. Wenn ich in Österreich verfolgt werde und in die Türkei gehe, dann kann ich auch nicht rauben, stehlen, morden und vergewaltigen. Natürlich ist das der logische Menschenverstand, dass ich dort dann rausfliege." Ob er denn tatsächlich glaube, dass alle Menschen, die abgeschoben werden, in Österreich straffällig geworden wären? „Was man so in den Nachrichten hört, schon", erklärt er. „Meine Meinung ist, dass man Menschen, wenn es ihnen schlecht geht, helfen muss. Aber Österreich kann nicht alle aufnehmen, es gibt genug andere Länder. Ist auch klar, das ist ein schönes Land, hier gibt es einen Sozialstaat, aber warum gehen sie nicht nach Tschechien oder Deutschland oder Italien?" Wie viele Flüchtlinge diese Länder aufnehmen, ist Roland nicht bekannt. Er gibt vor allem eine Stimmung wieder, die sich in Österreich breit gemacht hat.


Ressentiments statt Anteilnahme

Am 20. Dezember, dem internationalen Tag der Solidarität, sagte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, dass Solidarität die Grundlage zur Lösung globaler Herausforderungen sein müsse, um eine bessere Zukunft für alle zu schaffen. Ob diese Worte bei den Menschen angekommen sind, scheint im Zusammenhang mit Griechenlands Krise fraglich. „Wir sind mit den Griechen ja schon solidarisch, aber irgendwann ist das Maß auch voll, nämlich dann, wenn wir alle nicht mehr können." Eine Lösung für das Problem kann Erich nicht vorschlagen. Andrea ist der Meinung, dass man nicht alle in einen Topf werfen kann. „Ich glaube, es gibt unzählige Griechen, die genauso wie viele Österreicher dieselben Ziele und Werte im Leben verfolgen, und der einzelne nicht schuld an der Krise ist. Es gibt sicher welche, die das System viel zu lange ausgenutzt und viele andere mit hinuntergezogen haben. Mit dem Großteil der griechischen Bevölkerung habe ich auf alle Fälle ein solidarisches Gefühl." Dubiose Bankgeschäfte und Hochrisiko-Spekulationen an Börsen scheinen als Verursacher der Finanzkrise vergessen. Während dort längst wieder Alltag herrscht, scheint es den konservativen Kräften gelungen zu sein, die Spardiskussion weg von den großen Unternehmen ganz beim Sozialstaat zu verankern. Und bei denen, „die das System viel zu langen ausgenützt haben." Von der theoretisch erklärten Solidarität bleibt, wenig überraschend, nichts, wenn es darum geht, andere auszuschließen. „Ich bin dafür, die Griechen aus der EU zu schmeißen", macht Roland seinen Gefühlen Luft. „Da geht es um sehr viel Geld und wir haben schon genug Geld hineingesteckt, aber es ändert sich nichts." Mit den Menschen könne man sich schon solidarisch zeigen, vielleicht auch auf Urlaub nach Griechenland fahren, um die Wirtschaft anzukurbeln. Aber Geld? Nein, das solle man der Regierung nicht mehr geben, weil diese sowieso mache, was sie wolle, ist er überzeugt. „Die Frage ist, was uns weiter nach unten zieht, eine EU mit oder ohne Griechenland", fragt Erich rhetorisch und legt nahe, dass es „ohne" sie doch besser sei. „Ich weiß nicht, ob Solidarität hier etwas bringt, es hat sich ja gezeigt, dass uns keine Demonstration weitergebracht hat. Alle haben sich aufgeregt, die Politiker haben irgendetwas erzählt, und genau das Gegenteil ist eingetreten." Andrea glaubt, dass das Problem viel tiefer liegt. „Es bringt nichts, Griechenland mit Geldern zu unterstützen, solange sich das Verhalten einzelner nicht ändert und die Korruption, die eigentlich die Wurzel des Problems ist, nicht aufhört." Dass europäische Banken mit Krediten zu Höchstzinsen gute Geschäfte machen, scheint kaum jemandem bewusst zu sein. Schnell ist man erneut bei denen, die andere ausnützen würden. Roland erzählt von vielen Arbeitslosen, „die einfach nicht arbeiten gehen wollen und Sozialschmarotzer sind." Wiewohl Roland mit seiner Arbeit zufrieden scheint, lässt seine Wortwahl seine persönliche Verbitterung nicht überhören. Besonders mit Langzeitarbeitslosen möchte er nicht solidarisch sein, im Gegensatz zu jenen, „die ihren Job verloren haben und aber schon auf der Suche nach einem neuen sind." Auch wenn unter Langzeitarbeitslosen praktisch keine jungen Menschen zu finden sind, schiebt Roland die Verantwortung auf die individuelle Ebene. Währenddessen zerbrechen sich ExpertInnen im Auftrag der Regierung den Kopf, wie man die Wirtschaft dazu bringen kann, auch ältere Menschen wieder anzustellen. Solidarität bedeutet für Roland, sich dem Arbeitgeber gegenüber loyal zu verhalten. „Wenn einer meiner Freunde arbeitslos ist, dann kann man sich solidarisch zeigen, indem man ihm hilft, den Mut nicht zu verlieren, bis er wieder Arbeit findet. Aber mit Langzeitarbeitslosen will ich nicht solidarisch sein, unser Sozialsystem ist nicht dafür gemacht, es auszunützen."


Entzweite Gesellschaft

Erich sitzt mit einem Freund im Park. Thomas will lieber anonym bleiben, sich auch nicht fotografieren lassen. Als das Thema Arbeitslose aufkommt, wird die Diskussion zwischen den beiden emotional, der Tonfall härter. „Ich ärgere mich mitunter über Sozialschmarotzer, also auch über dich", wirft Erich seinem Freund an den Kopf. Thomas erklärt, dass er die Hälfte seines Lebens bewusst arbeitslos gemeldet war, weil er sich dem herrschenden System nicht unterordnen wolle. Auch Erich war eine zeitlang arbeitslos, doch dann hat er eine neuerliche Ausbildung absolviert und sich schließlich selbstständig gemacht. „Man wechselt seine Ansichten, ich stehe jetzt auf der anderen Seite. Ich arbeite, zahle Steuern und Abgaben und sehe andererseits Menschen, die arbeitslos sind und nicht machen müssen, was ich mache. Das ist in gewisser Weise auch Eifersucht, ich wäre auch gerne so, würde gerne weniger arbeiten müssen, um gleich viel Geld zu haben. Ich darf mich zu Recht ärgern, wenn ich arbeite, um andere Menschen durchzufüttern." Ob das Sozialsystem nicht auch Solidarität impliziere? „Naja, ich habe überhaupt kein Problem damit, jemanden zu erhalten, der nicht arbeiten kann, aber wenn jemand arbeiten kann und es nur nicht macht, weil er nicht will, wieso soll ich mich mit diesen Menschen solidarisch erklären?" Für Andrea liegt die Grenze der Solidarität in den Ursachen der Arbeitslosigkeit begründet. „Jeder Mensch hat Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Arbeitsleben eingebracht werden können. Man muss versuchen zu verstehen, warum jemand arbeitslos ist. Ich würde mich nicht mit der Person als Arbeitslose identifizieren, sondern versuchen zu sehen, wo ihre Kompetenzen liegen", erklärt sie. In den wenigsten Fällen wären Menschen aus Eigenverschulden arbeitslos. „Man muss den Menschen - und so weit geht hier meine Solidarität - die Chance geben, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Wenn er diese Möglichkeit nicht nutzt, dann ist vielleicht die Grenze der Solidarität erreicht."


Die Welt, so mag man meinen, wenn man mit den Menschen spricht, wäre vom Rückzug ins Private und einer Entsolidarisierung der Gesellschaften geprägt. Zwar wird Solidarität im privaten Umfeld und der näheren Umgebung gelebt, doch scheint es, als wäre die ursprüngliche Idee von Solidarität nicht mehr so recht greifbar. „Es geht im Grunde darum, dass man in einem Boot sitzt und Verständnis für die Situation des Anderen hat. Mit Menschen, die man kennt, ist man natürlich eher solidarisch als mit solchen, die man nicht kennt", meint Erich. Um sich solidarisch mit jemandem zeigen zu können, werden oftmals Gegenleistungen verlangt, und je komplexer die Situation sei, umso eher verkrieche man sich in der eigenen Welt. Die Gespräche legen aber auch nahe, dass mit der politischen Rhetorik von Leistung, die unsere schöne Welt wieder zusammenhalten würde, auch die Anteilnahme und Empathie für andere geringer wird. Wo die politische Landschaft die Forderungen und Eigeninteressen der Ökonomie abfedern sollten, lassen sie die Leute, so deren Empfinden, zunehmend im Regen stehen. Während der alte Friedrich der Politik als enttäuschter Sozialdemokrat den Rücken gekehrt hat, weiß die Jugend nicht mehr, was Solidarität eigentlich bedeutet. Nur zögerlich wagen sie Definitionen. Es habe mit Toleranz zu tun, mit Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Und irgendwie auch mit Verantwortung und Macht. Die Grenzen zwischen Anfang und Ende der Solidarität verschwimmen. Roland ist sich nicht sicher, wo diese liegen. „Ich bin auf alle Fälle anderen Menschen gegenüber solidarisch, aber nicht mit jedem. Ich glaube, für jeden Menschen liegen die Grenzen woanders. Bei manchen hört sie schon an der Haustüre auf." Ein immer stärker propagierter Individualismus hätte die Welt auseinander dividiert, glaubt Thomas. Doch es ist die Gemeinschaft, die Solidarität ausmacht: das kollektive Handeln, auch wenn man als Individuum nicht oder nur indirekt davon profitiert.

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