Es gab eine Zeit, da gehörten Einhörner so selbstverständlich zur Fauna wie Hunde, Vögel und Ziegen. Allerdings, so wusste man im Mittelalter, sind sie so wild und stark und eben wahnsinnig selten, dass man sie kaum zu sehen und noch weniger zu fassen bekommt. Es brauchte schon viel Vorbereitung, noch mehr Glück und eine echte Jungfrau, um die scheuen anzulocken. Einigen Glücklichen war das offenbar schon gelungen, jedenfalls lagerte in höfischen Schatzkammern das ein oder andere weiße Horn. Andere konnten das Ziel dieser sagenumwobenen Jagd nur auf Bildern betrachten: Angelockt von einer Jungfrau, legt das Einhorn den Kopf in ihren Schoß, und der Jäger durchbohrt das Tier mit seinem Speer. In leichter Abwandlung findet sich dieses Motiv auf zahlreichen mittelalterlichen Kunstwerken. Es war ein beliebtes Motiv auf Bildern und Stoffen, mit denen Burgen und Klöster geschmückt wurden.
Die Faszination für Einhörner ist bis heute ungebrochen, auch wenn sie niemand mehr erlegen möchte. Sie kommen heute oft mit Glitzer und Regenbogenschweif daher. Kinder lieben sie und für die Pride-Bewegung sind sie zum Maskottchen geworden. Beautytrends wie Unicorn Hair berufen sich auf sie. Sie begegnen uns in Büchern und Filmen und wie man jetzt in Das Einhorn - Geschichte einer Faszination nachlesen kann, tun sie das nicht ganz voraussetzungslos. Wenn in Harry Potter ein magisches Geschöpf mit schneeweißem Fell und goldenen Hufen auftritt, das wahnsinnig schwer zu fangen ist, erinnert nicht nur das allein an die mittelalterlichen Einhornjagden. Wenn ihre Lehrerin die Zauberschüler zudem ermahnt, Jungen sollten zurückbleiben, weil sich das Einhorn eher Frauen und Mädchen nähert, ist auch das eine uralte Idee.
Julia Weitbrecht, Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur, und Bernd Roling, Professor für Mittel- und Neulatein, gehen für ihre Kulturgeschichte des Einhorns weit zurück: von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Von den ersten Einhornsichtungen in Indien über die religiöse Vereinnahmung der Tiere im Mittelalter bis hin zu ihrer Entzauberung im 17. Jahrhundert, wo sie schließlich ihren Status als real existierende Tiere verloren. Woher kommt es, dass man bis heute eine ganze Reihe Dinge wie Extravaganz und Freiheit, Magie und Spiritualität, Schönheit und Leichtigkeit mit Einhörnern verbindet? Dem gehen Weitbrecht und Roling nach. Dass es so viele Assoziationen weckt, sei schon mal eines der charakteristischen Merkmale des Einhorns, sagen sie: "Es ist fester Bestandteil unserer kollektiven Vorstellung und bleibt uns zugleich entzogen".
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Den antiken Naturforschern galt Indien als Heimat der Einhörner. Die erste Beschreibung eines Wesens mit einem großen Horn auf der Stirn lieferte der Mediziner Ktesias von Knidos im 5. Jahrhundert vor Christus. Er war zwar selbst nie in Indien, wusste aber, dass diese wundersamen Tiere einen dunkelroten Kopf, blaue Augen und eine "wendige Körpergestalt" besaßen. Das Horn sei weiß, schwarz und rot und man könne es zu einem Trinkgefäß verarbeiten. Wer daraus trank, war laut Ktesias vor Krampfanfällen und Gift geschützt. Wo der Einhornmythos tatsächlich begann, lässt sich laut Roling und Weitbrecht nicht genau rekonstruieren: "Stand am Anfang der Erfolgsgeschichte unserer Einhörner vielleicht schlicht eine Antilope, deren zweites Horn die Jäger nicht wahrgenommen hatten, weil die Sonne das Licht flirren ließ? Folgte dann einfach eine gut erzählte Geschichte auf eine andere? Oder hatten die ersten Gelehrten des Altertums noch etwas gesehen, was wir ihnen heute absprechen wollen?"
Schon in seinen ersten Beschreibungen ist das Einhorn ein schillerndes Wesen, denn die Berichte der antiken Naturforscher variieren stark. Mal ähnelt das Einhorn einem gewöhnlichen Nashorn, mal einer Ziege, andere beschreiben es als behörnten Esel oder einhörnige Antilope. Schon damals, so halten Roling und Weitbrecht fest, war das Einhorn "eine Projektionsfläche für den Traum vom Fremden, Fernen und Exotischen". Mit Geschichten über wundersame Wesen wie Einhörner wollte man das Publikum unterhalten. Viele Autoren hatten aber dabei durchaus einen wissenschaftlichen Anspruch und beriefen sich auf Quellen wie Augenzeugenberichte oder bereits etablierte Enzyklopädien. Allerdings sorgte die Abwesenheit der tatsächlichen Tiere dafür, dass diese Lücke mit reichlich Spekulationen und Ausschmückungen gefüllt wurde.
Es gab eine Zeit, da gehörten Einhörner so selbstverständlich zur Fauna wie Hunde, Vögel und Ziegen. Allerdings, so wusste man im Mittelalter, sind sie so wild und stark und eben wahnsinnig selten, dass man sie kaum zu sehen und noch weniger zu fassen bekommt. Es brauchte schon viel Vorbereitung, noch mehr Glück und eine echte Jungfrau, um die scheuen anzulocken. Einigen Glücklichen war das offenbar schon gelungen, jedenfalls lagerte in höfischen Schatzkammern das ein oder andere weiße Horn. Andere konnten das Ziel dieser sagenumwobenen Jagd nur auf Bildern betrachten: Angelockt von einer Jungfrau, legt das Einhorn den Kopf in ihren Schoß, und der Jäger durchbohrt das Tier mit seinem Speer. In leichter Abwandlung findet sich dieses Motiv auf zahlreichen mittelalterlichen Kunstwerken. Es war ein beliebtes Motiv auf Bildern und Stoffen, mit denen Burgen und Klöster geschmückt wurden.