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Corona-Impfung: Wie Ungarn Nummer eins in Europa wurde - WELT

Ungarn hat in den vergangenen Tagen sein Impftempo extrem beschleunigt – und ist nun schneller als alle anderen größeren EU-Länder. Viele der Gründe dafür sind in Peking und Moskau zu suchen. Aber auch in einem Pragmatismus, den sich Deutschland genau anschauen sollte.

Es war eine kostbare Ware, die Mitte Februar von einem unscheinbaren Frachtflugzeug nach Budapest gebracht wurde: der chinesische Corona-Impfstoff des Herstellers Sinopharm. Die ungarische Regierung hatte die Maschine eigens nach China geschickt, um sie abzuholen. 550.000 Impfdosen waren an Bord. Seit Ende Februar werden sie an die Ungarn verimpft.

In den vergangenen beiden Wochen hat das Land alle anderen EU-Staaten überholt. Insgesamt 1,1 Millionen Menschen haben bereits ihre erste Impfdosis erhalten, das sind 14 Prozent der Bevölkerung. Damit ist Ungarn Impf-Europameister – nur im Zwergstaat Malta sind anteilig mehr Menschen immunisiert. Deutschland liegt EU-weit mit einer Impfquote von 9,4 Prozent auf Rang 16.


Ungarn scherte schon Ende vergangenen Jahres aus dem europäischen Bestellprozess aus. Sieben Millionen Impfdosen orderte das Land in Moskau und Peking – zusätzlich zu den bei der EU bestellten 19 Millionen. Wobei die Vakzine aus Russland und China derzeit schneller geliefert werden als die europäischen. In vielen Ländern Europas wird aktuell über eine Bestellung von Impfstoff jenseits der EU nachgedacht.


Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) prüft inzwischen den russischen Impfstoff Sputnik V. Ungarn handelte früher als alle anderen. Premier Viktor Orbán wollte damit auch die EU, mit der er seit Jahren im Clinch liegt, politisch unter Druck setzen. Aber was von vielen Beobachtern als PR-Nummer abgetan worden war, entpuppt sich nun als erfolgreiche Impfstrategie.


Noch vor wenigen Wochen sah das ganz anders aus. Viele Ungarn zweifelten nach der Zulassung Mitte Februar am chinesischen Impfstoff. Sie fanden die schnelle Zulassung durch das ungarische Gesundheitsamt verdächtig. Auch Experten äußerten sich skeptisch und warfen China mangelnde Transparenz vor. Einige Ärzte weigerten sich zunächst, den Sinopharm-Impfstoff zu verimpfen, da der Beipackzettel nicht in ungarischer Sprache verfügbar war.


„Kann nicht verantworten, dass Ungarn sterben, weil Brüssel zu langsam ist“

Seit Jahresbeginn warb Ungarns Premierminister Viktor Orbán persönlich für das Vakzin: „Die Chinesen kennen das Virus am längsten, deshalb glaube ich, dass sie am meisten darüber wissen“, sagte er dem Radiosender Kossuth. Zugleich nutzte der Regierungschef das Thema, um die EU zu kritisieren: „Man kann nicht verantworten, dass Ungarn sterben, nur weil Brüssel zu langsam ist“, sagte er im Januar. Wenn die Imfpstoffe nicht aus Europa kämen, müsse man sie eben woanders herholen. Ende Februar ließ er sich dann die erste Dosis des Sinopharm-Impfstoffs spritzen. Ein Videoteam dokumentierte die Immunisierung des Premiers für dessen Facebook-Seite.

Als das Land dann vor zwei Wochen begann, Sinopharm zu verwenden, beschleunigte sich das Impftempo extrem. Binnen weniger Tage überholte Ungarn alle anderen größeren EU-Staaten. „Wir wären in einer viel schwierigeren Lage, wenn wir den chinesischen Impfstoff nicht hätten“, erklärte die Gesundheitsbehörde NNK auf Anfrage.

Binnen kurzer Zeit legte sich die Skepsis der Ungarn. „Wir befinden uns gerade mitten in der dritten Welle, die Krankenhäuser sind voll und die Todesraten auf Rekordhoch“, sagt Immunologe András Falus von der Semmelweis-Universität in Budapest gegenüber WELT. „Das sorgt dafür, dass die Menschen jeden Impfstoff akzeptieren – egal, woher er kommt.“

Tatsächlich hat Ungarn laut Johns-Hopkins-Universität die dritthöchste Todesrate der Welt, nach Mexiko und Peru. Die Fallzahlen im Land wuchsen in den vergangenen beiden Wochen exponentiell.


Der Journalist Ádám Bihari von der regierungskritischen Wochenzeitung „HVG“ sieht das ähnlich. Viele Menschen, vor allem die Anhänger der Opposition, hätten immer angegeben, den chinesischen Impfstoff nicht zu wollen. Sie akzeptierten oft nur Impfstoffe, die auch von der EMA zugelassen wurden. „Doch wenn sie dann angerufen und vor die Wahl gestellt werden, entweder jetzt eine Sinopharm-Impfung zu bekommen oder noch ein paar Wochen zu warten, dann ändert sich die Lage“, sagt Bihari. Auch er selbst würde sich trotz anfänglicher Skepsis jetzt den Sinopharm-Impfstoff verabreichen lassen.


Für den Erfolg des Landes ist aber noch ein anderer Faktor entscheidend: Ungarn hat mittlerweile seine Impfreihenfolge über den Haufen geworfen. Als Erstes sollten Ärzte und Klinikpersonal geimpft werden. Danach war ursprünglich die Impfung der über 80-Jährigen geplant, gefolgt von den über 60-Jährigen. Die vierte Gruppe sollten unter 60-Jährige mit chronischen Krankheiten sein, bevor alle anderen ihre Spritze bekommen. Aber in der Praxis hat das nicht funktioniert. Nur die erste Gruppe wurde vollständig wie geplant geimpft. Die restlichen Gruppen kommen jetzt parallel dran. „Es ist ein großes Chaos ausgebrochen, aber das dürfte ein Grund sein, warum es einfach schneller geht“, sagt András Falus.

Erleichtert wird die schnelle Immunisierung der Bevölkerung auch durch die einfache Infrastruktur. Wer sich impfen lassen möchte, registriert sich auf einer Website der Regierung mit seinen Daten. Diese werden dann an Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte weitergeleitet, die ihre Patienten per SMS oder Anruf informieren, wenn sie an der Reihe sind. „Das funktioniert ziemlich gut und sorgt dafür, dass die Menschen schnell zu ihren Terminen kommen“, sagt der Journalist Bihari.


Bislang gab es dabei nur einen Zwischenfall. In der vergangenen Woche erhielten 75.000 Menschen irrtümlich eine SMS mit der Nachricht, sie könnten ab sofort eine Impfung mit dem AstraZeneca-Präparat erhalten. Die Ankündigung, die wohl aufgrund eines Computerfehlers versendet wurde, musste allerdings wieder zurückgenommen werden. Jene aber, die trotzdem beim Arzt oder im Impfzentrum erschienen, bekamen dennoch spontan ihre Impfung.

Ungarn könnte sogar noch schneller impfen. Von allen gelieferten Dosen wurden erst 56 Prozent gespritzt. 44 Prozent liegen noch in den Kühlschränken. Ob das gelingt, ist noch offen. Aber auch beim aktuellen Tempo ist die Gesundheitsbehörde optimistisch: Bis Anfang April rechnet sie mit 1,3 Millionen zusätzlichen Erstimpfungen – und bis Juli mit der Impfung der gesamten Bevölkerung.

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