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„Dieses Gesetz diskriminiert psychisch Kranke“

Ein Gesetzesentwurf des Gesundheitsministers Jens Spahn sieht vor, dass Psychotherapeuten in Zukunft auch Medikamente verschreiben können. Darüber regen sich alle auf. Zu Recht?


Von Sebastian Eder und Gloria Geyer


Dabei will Spahn mit dem Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung, das Anfang Januar als Referentenentwurf mit der Bitte um Stellungnahme an Bundesressorts, Länder und Verbände verschickt wurde, eigentlich einen Missstand beheben: Um Psychotherapeut zu werden, muss man bisher nach einem Psychologiestudium noch eine kostenpflichtige, mehrjährige Fachausbildung hinter sich bringen. Dabei müssen lange Pflichtpraktika absolviert werden, die kaum honoriert werden. Der Entwurf des neuen Gesetzes sieht vor, dass Psychotherapie ein eigenes Studienfach wird. Nach fünf Jahren soll man seinen Master in der Tasche haben und als Therapeut arbeiten dürfen.

Die DGPPN fordert dagegen eine komplette Neuausrichtung des Gesetzes. „Der vorliegende Entwurf versucht, die Diagnostik, Behandlung und Erforschung psychischer Erkrankungen in wesentlichen Teilen völlig von der Medizin zu trennen“, heißt es in einer Stellungnahme. Es ist vor allem ein Punkt, der den Vorsitzenden Andreas Heinz empört: Der Entwurf sieht die Möglichkeit vor, einen Psychotherapie-Modellversuchsstudiengang zuzulassen, der die Absolventen berechtigt, Medikamente zu verschreiben. „Das wäre ein Dammbruch“, sagt Heinz. „Menschen mit psychischen Erkrankungen werden auf diese Weise diskriminiert und wesentlich schlechter gestellt als alle anderen Patienten im Gesundheitssystem, die Medikamente nur unter ärztlicher Aufsicht bekommen.“

„Ein weltweit einmaliges Experiment“

Um das Thema zu verstehen, muss man wissen, dass die Begriffe Psychiater und Psychotherapeut – die im alltäglichen Sprachgebrauch oft synonym verwendet werden – zwei verschiedene Berufsgruppen bezeichnen. Psychiater haben ein Medizinstudium absolviert, sich danach zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ausbilden lassen und dürfen Medikamente verschreiben. Psychotherapeuten haben dagegen Psychologie studiert und im Anschluss daran die mehrjährige, staatlich geregelte Zusatzausbildung durchlaufen. Mit Gesprächen und Übungen therapieren sie zum Beispiel Zwänge oder leichtere Depressionen. Medikamente dürfen sie nicht verschreiben. Dass sich Absolventen des neuen Studiengangs auch „Psychotherapeut“ nennen dürften, nennt Heinz eine „Mogelpackung für die Patienten“. „Sie könnten nicht mehr unterscheiden, welche Qualifikation der Therapeut genau hat.“ Und dass eine neue Berufsgruppe Medikamente verschreibt, hält Heinz für eine „patientengefährdende Katastrophe“.

Warum? „Schon heute werden zu viele Psychopharmaka verschrieben, auch von Ärzten. Aber die sind wenigstens einigermaßen umfassend dafür ausgebildet.“ Heinz hält es für „völlig ausgeschlossen“, auf der Basis eines fünfjährigen, nichtmedizischen Studiums mit ganz anderem Fokus das ganzheitliche physiologische, pharmakologische und pathologische Wissen zu erwerben, das zur Überwachung von Wirkungen und Nebenwirkungen notwendig sei. Gerade ältere Patienten seien gefährdet: „Wenn Sie jemandem, der schon 20 Pillen am Tag nimmt, eine weitere geben, sind die Folgen ohne spezialisierte Kenntnisse nicht mehr überblickbar.“

Auch sonst seien Nebenwirkungen möglich: „Benzodiazepine, mit denen Angststörungen behandelt werden, können schwere Suchterkrankungen auslösen und Antidepressiva Entzugserscheinungen“, sagt Heinz. Neuroleptika, mit denen auch Psychosen behandelt werden, könnten zu unheilbaren Erkrankungen wie Bewegungsstörungen und Diabetes führen. „Ich habe schon einen Patienten mit Neuroleptika-Nebenwirkungen gesehen, der sich deswegen suizidiert hat“, sagt Heinz, der auch Direktor der Charité-Psychiatrie in Berlin ist. Spahns Vorschlag konterkariere 40 Jahre Psychiatriereform in Deutschland.

Diese Reform wurde in den siebziger Jahren auch als Reaktion auf die Verfolgung psychisch Kranker in der Zeit des Nationalsozialismus angestoßen. Eines der Ziele ist seitdem, Erkrankte nicht mehr in Lagern am Stadtrand mit Medikamenten ruhigzustellen, sondern ihnen ein Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen – und ihnen nur Medikamente zu geben, wenn es wirklich nötig ist. Heinz versteht deswegen nicht, warum Spahn „das Tabu, dass ein nichtärztlicher Beruf Medikamente austeilt“, ausgerechnet in diesem sensiblen Bereich brechen will. „Das ist ein weltweit einmaliges Experiment.“

Nicht nur Ärzte wehren sich

Und es sind nicht nur die Ärzte, die sich gegen Spahns Pläne wehren. Bei der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung begrüßt man die geplante Reform der Ausbildung zwar grundsätzlich und findet, dass die positiven Aspekte des Gesetzentwurfes überwiegen. „Den vorgesehenen Modellstudiengang zur Erlangung der Verordnungskompetenz für Psychopharmaka lehnen wir aber ab“, sagt Vorsitzende Barbara Lubisch. „Der Umfang der Pharmakologie lässt sich da nicht fachgerecht unterbringen. Zumal die Gefahr besteht, dass andere Ausbildungsschwerpunkte darunter leiden.“ Bisher hätten nur wenige Psychotherapeuten Interesse geäußert, Medikamente verschreiben zu dürfen. Lubisch befürchtet, dass eine erweiterte Befugnis dazu führen könne, dass generell mehr Medikamente eingesetzt werden. „Es kann verlockend sein, Medikamente zu verschreiben, da sie Symptome schneller lindern können. Allerdings geht es uns vielmehr um die nachhaltige Besserung.“

Die Vorsitzende des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, Gudrun Schliebener, warnt davor, dass sich eine falsche medikamentöse Behandlung auch auf das familiäre Umfeld der Patienten auswirke. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Es ist ohnehin eine große Belastung, mit einem schwer psychisch erkrankten Menschen zusammenzuleben“, sagt sie. „Man hat ständig Angst, dass etwas passieren könnte. Diese Angst wird größer, wenn weitere unkalkulierbare Nebenwirkungen hinzukommen.“ Franz-Josef Wagner, Vorsitzender des Bundesnetzwerks Selbsthilfe seelische Gesundheit, sagt: „Ich komme seit 30 Jahren nicht von den Medikamenten weg, und die Nebenwirkungen sind verheerend.“ Er befürchtet, dass die Psychotherapie durch das neue Gesetz auf ein Minimum reduziert wird „und nur noch Medikamente verschrieben werden. Dieses Gesetz ist nicht für uns Betroffene gemacht, sondern für die Pharma-Industrie.“

Hoffnung kann den Kritikern machen, dass es Spahn mit diesem Gesetzesentwurf im Bundestag nicht leicht haben wird. Karl Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, sagt: „Ich halte nicht viel davon, dass Psychotherapeuten selbst Medikamente verschreiben. Wegen der zahlreichen Wechselwirkungen dieser Arzneimittel müsste der Psychotherapeut selbst dann auch Arzt sein. Sehr viel wichtiger ist, dass alle Psychotherapeuten sich mit den Psychopharmaka gut auskennen und die Zusammenarbeit mit den Ärzten bei der Auswahl der Arzneimittel verbessert wird.“

Das Gesundheitsministerium dürfte von dem breiten Widerstand nicht überrascht werden. Dass die Neuerung nur modellhaft erprobt werden soll, wird in dem Gesetzesentwurf damit begründet, dass die Mehrheit der „Angehörigen des Psychotherapeutenberufs sich im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens gegen die Möglichkeit zur Verschreibung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ausgesprochen haben“. Das gelte in gleicher Weise für die Ärzteschaft. Auch ein vom Ministerium in Auftrag gegebenes Gutachten „sprach sich im Ergebnis gegen eine Verschreibungsbefugnis von Medikamenten aus“. Nach wie vor gebe es „jedoch immer wieder Stimmen, die sich für eine Ausweitung der Kompetenzen von Psychotherapeuten einsetzen“.

Fragt man im Ministerium nach, was das für Stimmen sein sollen, wird auf das laufende Stellungnahmeverfahren verwiesen, während dem man sich nicht zu Einzelheiten äußere. Vielleicht kann eine Sorge von Andreas Heinz einen Hinweis darauf geben, wer sich für die Änderung ausgesprochen hat: „Es gibt in Deutschland ungefähr doppelt so viele niedergelassene Psychotherapeuten wie Fachärzte, die üblicherweise Psychopharmaka verschreiben. Wenn die ambulanten Pharma-Vertreter in Zukunft doppelt so viele Praxen beackern könnten – mein lieber Gott.“