Daniel* hat keine Angst - na gut: vielleicht ein bisschen. Aber es ist eher Anspannung, reine Konzentration, das Verschmelzen von Gedanken und Körper. Kein Seil, das ihn hält, nur die eigenen Muskeln, unter ihm der Abgrund. Er kennt diese Wand genau: Harter Basalt, an die 30 Meter hoch. Mit ihren Rissen und Kanten sieht sie aus wie ein riesiges Stück zerknittertes Papier. Noch ein Zug und er hat es geschafft: Heiß und berauschend durchströmen Endorphine seinen Körper. Er fühlt sich mächtig, unverwundbar, unsterblich.
Carina dreht sich langsam um, geht zurück in ihre Wohnung, stellt den Wäschekorb ab, schließt leise die Tür und rollt sich auf dem Sofa zusammen. Sie fühlt sich schwach, erschöpft, besiegt.
Zwischen der gesunden Angst eines Menschen, dem eine tatsächliche Gefahr droht, und der krankhaften Angst vor Bedrohungen, die keine sind, liegen Welten. Den einen schützt die Angst davor, unkalkulierbare Risiken einzugehen, seine Gesundheit oder gar sein Leben aufs Spiel zu setzen. Den anderen macht sie handlungsunfähig, sperrt ihn in einen Kerker aus diffusem Unwohlsein, macht ihn zu ihrem zitternden Gefangenen.
Unsere Angst spielt sich vor allem im limbischen System und der Amygdala, also in entwicklungsgeschichtlich alten Hirnregionen, ab. Neben Wut, Trauer und Freude ist sie eine der vier Grundemotionen des Menschen. „Ohne Angst hätte die Menschheit gar nicht überlebt", sagt die Hattinger Psychiaterin Dr. Monika Kilian-Poburski. Viele Ängste seien nämlich „entwicklungsbedingt irgendwann einmal sinnvoll" gewesen. Somit ist dieses Gefühl, das uns mitunter für eine Schrecksekunde lähmt und dann überwach und handlungsfähig macht, zunächst einmal etwas Gutes, Gesundes.
Natürlich kennt auch Daniel Angst. „Als Kind hatte ich Angst vor der Dunkelheit, als Jugendlicher davor, schwach zu wirken, Wettkämpfe zu verlieren", erzählt er. Ganz bewusst habe er sich seinen Ängsten gestellt, um sich davon zu befreien. Das macht er bis heute so. Die gelegentliche Free-Solo-Kletterei, also das Klettern ohne Sicherungsseil, hält er nicht für besonders gefährlich. Dennoch weiß seine Familie nichts davon, sie soll sich nicht um ihn sorgen. Außerdem will er nicht als Angeber dastehen - seine Touren seien schließlich relativ einfach. Das zu glauben, fällt erst einmal schwer. Doch was Daniel über sein geheimes Hobby sagt, klingt so gar nicht nach lebensmüdem Adrenalin-Junkie: „Man darf sich nicht überschätzen und die Situation nicht unterschätzen." Er allein weiß, welche Wand er bewältigen kann, er allein ist in der Lage, das Risiko einzuschätzen. Das Bewusstsein für seine körperlichen Fähigkeiten hält die Angst klein, macht sie zu einer meist stillen, manchmal aufbegehrenden Begleiterin, die er jederzeit in ihre Schranken weisen kann.