Die Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft:
Auf der Rückfahrt geht es los. Clara sitzt gerade im Zug. Erst ist es nur ein Kribbeln unter der Haut, dann breitet es sich aus, fängt an zu brennen. Es fühlt sich an, als ob jemand ein Feuerzeug nah an die ungeschützte Haut hält. Claras Gesicht schwillt zu, sie kann kaum noch aus den Augen schauen. Ihre Freunde sitzen daneben und müssen hilflos dabei zusehen. Sie wissen, dass Clara krank ist. Doch so deutlich wie an diesem Tag haben sie es noch nie gesehen. Am Morgen waren sie noch zusammen in Amsterdam. Alles war gut - bis jetzt. Sie möchten Clara trösten, sie umarmen, doch es geht nicht. Druck tut ihr weh, Reibung tut ihr weh, Berührungen, Licht, alles.
Ihre Freunde können diese Schmerzen nicht nachvollziehen, auch ihre Familie tut sich schwer damit. Doch es gibt jemanden, der das kann, der sie versteht, auch ohne Worte. Weil er in der gleichen Situation ist, dieselbe Krankheit hat: Maya. Maya ist 22, ein Jahr jünger als Clara, und leidet auch an EPP. Erythropoetische Protoporphyrie. Clara und Maya sind zwei von insgesamt 400 Menschen in Deutschland, die die Diagnose EPP bekommen haben. Es ist ein Gendefekt, Betroffene vertragen kaum Sonnenlicht. Die roten Blutkörperchen können nicht richtig ausgebildet werden, das Pigment Melanin fehlt. Normalerweise sorgt es dafür, dass die Haut eine Schutzschicht gegen die Sonne aufbaut, dass man braun wird. Bei EPP-Kranken fehlt das. Das Sonnenlicht prallt ungehindert auf die Nervenzellen und verursacht starke Schmerzen. Wenn man die Symptome sieht, ist es schon zu spät, dann wurden Haut und Nerven schon zerstört. Betroffene fühlen sich nur im Schatten wohl. EPP wird deshalb auch „Schattenspringerkrankheit” genannt.
So war es auch bei Maya. Als Kind ist sie am frühen Morgen Umwege mit dem Fahrrad gefahren, um mehr Schatten zu haben, musste dafür früher von Zuhause losgehen. Die Eltern haben ihr Handschuhe gekauft und spezielle Mützen für den Sommer - vorne wie ein Cap, hinten mit Vorhang für den Nacken. Aber Maya fand die hässlich und wollte sie nicht tragen. Lieber ging sie ungeschützt vor die Tür. Schon nach kurzer Zeit spürte sie Schmerzen wie Nadelstiche in ihrer Haut. Mittags durfte sie im Klassenzimmer bleiben, im Schatten. Sie mochte keine sonnigen Tage, liebte dafür die verregneten. Denn dann sind auch alle anderen Kinder drinnen geblieben und haben mit ihr gespielt.
2005 lernen sich die beiden kennen. Bei der EPP-Selbsthilfegruppe. Die blonde Maya und die dunkelhaarige Clara. Sie verstehen sich. Ganz intuitiv, ohne Worte. Clara erinnert sich an ein Hotel, an abgedunkelte Räume. Es ist ein sonniger Tag, draußen liegt der Erlensee. Doch die Kinder baden drinnen. Im Keller des Hauses ist ein Pool, kein Licht dringt von außen ein. Hier können sie schwimmen, ohne Schmerzen zu haben.
Maya und Clara teilen ein Schicksal, ihre Erzählungen ähneln sich: Als sie zwei Jahre alt sind, haben beide zum ersten Mal Schmerzen. Dann beginnt die Suche. Mit sieben Jahren hat Maya endlich einen Namen für ihre Symptome - ihr Vater, ein Kinderarzt, hat es entdeckt. Sie hat nicht gesponnen, war nicht unwillig oder zickig. Nein, das Kind ist wirklich krank, Erythropoetische Protoporphyrie. Auch Clara war sieben, als sie es erfahren hat. Lange ist sie von Arzt zu Arzt geirrt, hat verschiedene Diagnosen bekommen. Keine war die richtige, einmal hat man sogar eine Laktoseintoleranz vermutet. Viele Ärzte kennen diese Krankheit gar nicht, sie wurde erst 1961 entdeckt.
Ihre Geschichten legen sich wie Schablonen übereinander. Maya wohnt in Düsseldorf, Clara in Köln. Sie werden Freundinnen und schreiben sich regelmäßig, unterstützen sich. Einmal fahren sie zusammen in eine Klinik nach Düsseldorf. Sie schieben ihre Ärmel hoch, zeigen ihre Verbrennungen und erzählen von der Krankheit. Die jungen Ärzte sollen davon erfahren, um die Symptome rechtzeitig zu erkennen, um ihren Patienten helfen zu können.
Maya tut sich auch Jahre später noch schwer damit, ihre Krankheit zu akzeptieren. Sie will so sein wie die anderen Jugendlichen. An einem Wochenende fährt sie mit Freunden auf ein Festival, zieht kurze Hosen an und tanzt zur Musik in der Sonne. Sie ist unvernünftig, will nicht, dass die Leute sie anstarren. Doch dann bekommt sie Schmerzen, ihr Gesicht schwillt an, sie muss Tage im Bett verbringen, wälzt sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Sie muss das Medikament Tilidin nehmen, es ist ein Opiat. Mayas Zimmer ist komplett abgedunkelt, sie liegt auf dem Sofa und schaut Fernsehen. Viel bekommt sie davon nicht mit, es geht nur um die Stimmen, die Ruhe würde sie nicht ertragen. Sie sagt, es sei wie Wolken. Ihr Körper ist auf der einen Wolke, die Schmerzen auf einer anderen. Und das Bewusstsein ist noch weiter weg. Dann muss sie aufstehen, muss aus ihrem Zimmer und eine Treppe nach unten, weil sie etwas essen möchte. Sie stolpert zuerst, kann die Beine nicht mehr koordinieren und fällt dann. Ihr linkes Knie schwillt an, sie kann nicht mehr rennen, ihre Kniescheibe springt dabei nun raus, weil die Bänder gerissen sind.
Sie lässt sich operieren, aus Sehnen wird ein neues Band geformt. Maya liegt im Krankenhaus in Köln. Clara erfährt davon und kommt sie sofort besuchen. Sie weiß genau, wie es Maya geht, denn schließlich muss auch sie diese Medikamente nehmen. Clara weiß, wie es ist, tagelang wie benommen im Dunkeln zu liegen, sich zu fühlen wie eine Krake, die ihre vielen Gliedmaßen nicht mehr koordinieren kann. Es hätte ihr auch passieren können. Sie kennt die Wolken im Kopf. Und Clara kennt die schmerzhaften Sprüche und das Unverständnis der anderen. Der Straßenreiniger, der sie fragt, warum sie bei dem schönen Wetter einen Schirm offen habe. Die Mitschüler, die sie auf Klassenfahrten alleine lassen, um die Stadt zu sehen. Oder die Freunde, die gerne im Sommer ins Freibad gehen möchten und ihre Krankheit dabei vergessen. Das macht sie traurig. Doch wenn sie Maya davon erzählt, ist es erträglicher. Sie sagt, es ist schön jemanden zu haben, der mit ihr leidet. Sie kann ihren Freunden so viel erklären wie sie will, niemand versteht sie so gut wie Maya.
Im Herbst 2010 fliegen die beiden zusammen nach Griechenland, auf Korfu verbringen sie zwei Wochen. Tagsüber sitzen sie im Zimmer, spielen Karten, lesen oder schalten den Fernseher ein. Durch das Fenster sehen sie das Meer, es ist nur ein paar Schritte entfernt. Sie beobachten die Welt durch das Fensterglas, schauen den anderen dabei zu, wie sie in der Sonne leben, Tretboot fahren und Volleyball spielen und das so schön normal für sie ist. Mittags brennt die Sonne zu stark, sie müssen die Vorhänge zuziehen. Erst am Abend können sie die Wohnung verlassen und an den Strand gehen. Clara ist vernünftiger, sie trägt auch abends noch einen Hut mit breiter Krempe. Zum ersten Mal müssen sich die beiden nicht verstellen, es ist wirklich Urlaub, sie müssen nichts tun, nur weil andere es von ihnen erwarten.
Und dann passiert etwas, woran beide schon nicht mehr geglaubt haben: Es gibt ein Mittel, das die Symptome lindern kann. Es heißt „Scenesse". 2012 wird es in der Schweiz zugelassen, jahrelang fliegen die beiden alle zwei Monate nach Zürich. Seit April 2017 gibt es das Medikament auch in Deutschland. Doch es ist für die Kliniken schwierig, eine Zulassung zu bekommen. Nur drei Zentren dürfen Patienten damit behandeln, eines davon ist in Berlin. Etwa 25 der 400 EPP-Kranken können damit therapiert werden, Maya und Clara gehören dazu. Das Mittel ist keine Heilung, nur eine Linderung. Aber es hat ihnen ein Stück Normalität gegeben.
Maya lebt inzwischen in Berlin. Sie arbeitet als Eisverkäuferin. Eigentlich würde sie gerne Tischlerin werden, doch es geht nicht. Zu viel Zeit müsste sie draußen auf Montage verbringen. Selbst mit dem Medikament kann sie nur drinnen arbeiten. Clara ist Krankenschwester in Köln geworden, doch auch dort spürt sie die Krankheit noch: Wenn sie in das Zimmer eines Patienten geht, zieht sie als erstes die Vorhänge zu, zu grell ist das Licht. Der Kontakt ist nicht abgerissen, die beiden Freundinnen sehen sich immer noch regelmäßig. Alle zwei Monate kommt Clara jetzt mit dem Zug nach Berlin, fünf Stunden Fahrt, für die Behandlung, die dauert fast genauso lange.
Maya holt sie dann vom Bahnhof ab und begleitet sie. Auch in die Klinik kommt sie mit, die Räume sind ihnen schon fast vertraut: In einer Ecke steht eine dunkelblaue Liege, Clara legt sich hin und schiebt ihr schwarzes Shirt nach oben. Sie muss sich zur Wand drehen und kann nicht zum Fenster und zu den grünen Bäumen hinaussehen. Stattdessen starrt sie den Putz an. Der Arzt schmiert ihr eine Salbe auf die Hüfte, um die Haut zu betäuben. Eine glibberige Masse. So soll sie später nicht so starke Schmerzen haben, wenn eine Kanüle ihre Haut durchbohrt. Sie wird es trotzdem spüren. Maya sitzt auf einem Stuhl neben ihr und drückt ihre Hand. Dann legt der Arzt ein blaues, steriles OP-Tuch auf Claras rechte Seite. Er presst eine Kanüle in ihre Hüfte, Clara zuckt kurz zusammen, durch die Plastikröhre drückt er ein Implantat. Es ist ein schwammartiges Etwas, einige Millimeter lang.
Es wird sich im Körper auflösen und nach und nach das Pigment Afamelanotid freigeben. Das, welches Clara selbst nicht bilden kann. Wenn es wirkt, dunkeln zuerst die Leberflecke und Muttermale nach, die Haut ist unregelmäßig pigmentiert. Schmutzig, wie sie sagt. Doch danach kann sie in die Sonne gehen und wird schneller braun als andere. Die Schutzschicht kann sich aufbauen.
Blaue Handschuhe kleben ein weißes Pflaster auf die Wunde. Clara muss noch eine halbe Stunde liegen bleiben wegen der möglichen Nebenwirkungen, die sie noch nie hatte. Es gibt bisher keine Langzeitstudien; man weiß noch nicht, ob und wie das Medikament den Körper verändert oder schädigt.
Doch endlich kann Clara ein normales Leben führen, auch Maya muss sich nicht mehr länger im Dunkeln verstecken. Nun können sie vieles von dem machen, was für andere selbstverständlich ist. Kurzärmelig spazieren gehen zum Beispiel. Einen „Notfall-Cardigan” haben die beiden trotzdem immer dabei, falls die Schmerzen doch wiederkommen. Gleich wollen sie zu Maya nach Hause und dort einen Film schauen, bevor Clara am Abend zurück nach Köln fährt. Es soll heute noch sehr sonnig und heiß werden. Sie möchten kein Risiko eingehen. Maya bekommt erst nächste Woche ihr neues Implantat.
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