- Der Schichtbus kommt kurz nach fünf Uhr morgens. Haltestelle Wackerstein, zwischen Pförring und Vohburg an der Donau. Im Morgengrauen geht es über die Bundesstraße 16a, vorbei an Auen, Wiesen und Wäldern bis Ingolstadt, Auto-Union-Straße. 23 Kilometer, eine halbe Stunde Fahrt - dann hat der Bus ihren Arbeitsplatz erreicht: Audi AG, Halle A4, Zählpunkt 7.
Vor drei Jahren begann Rebecca Nachreiner dort eine Lehre zur Fertigungsmechanikerin. Die 19-Jährige sagt, sie hätte auch bei einem Fahrzeuginnenausstatter in der Gegend anfangen können, doch sei ihr die Wahl nicht schwergefallen: "Die Chance, für ein Weltunternehmen arbeiten zu können, darf man sich nicht entgehen lassen." Nachreiner, rotblondes Haar, eine ernsthafte, ehrgeizige Frau, sitzt an einem langen Tisch neben den Montagestraßen. Auf den Bändern ziehen glänzende Karossen langsam vorbei. Unaufgeregt hantieren die Mitarbeiter. Jeder Handgriff tausendmal gemacht. Sie spricht von lockerer Atmosphäre und Teamgeist: "Wenn Not am Mann ist, ziehen alle mit."
Nachreiner und Audi. Da ist zusammengekommen, was zusammengehört. Es gebe ein Bild, sagt sie, "das meine Geschichte auf den Punkt bringt": 1993, Anton Nachreiner, Sohn eines Kleinbauern, gelernter Kfz-Mechaniker, der im Werk eine Ausbildung zum Kfz-Meister absolviert, bekommt einen neuen Wagen. Ein Erinnerungsfoto wird gemacht. Rebecca, damals neun Monate alt, auf dem Arm des Vaters, Mutter Elfriede daneben. Bei Audi hatte sich das Paar kennengelernt. Sie arbeiten nebeneinander, wohnen nicht weit voneinander entfernt, benutzen denselben Werksbus. Nach der Geburt des ersten Kindes gibt die Mutter ihren Job auf, zwei Jahre danach wird Isabell geboren.
"Wir sind", sagt Rebecca Nachreiner, "mit Audi aufgewachsen." Das Bobbycar kommt aus dem Firmen-Shop. Die Mutter besucht mit den Töchtern regelmäßig die ehemaligen Kollegen. Die sind auch dabei, wenn Familie Nachreiner am Wochenende im Garten grillt oder Urlaub macht. Man kennt sich mitunter von Kindesbeinen an. Nachreiner: "Wenn man in Wackerstein irgendwo an der Haustür klingeln und fragen würde, wo die Leute arbeiten, ist die Chance ziemlich groß, dass sie sagen: 'bei Audi.'" Der Trainer der Damenelf des FC Wackerstein-Dünzing, wo Nachreiner im Mittelfeld spielt? Arbeitet bei Audi.
Das ist die Geschichte. Hineingeboren in eine kleine Welt, die geprägt wird von einem großen Arbeitgeber. Knapp 34000 Mitarbeiter beschäftigt er in Ingolstadt, und Armin Zimny, Unternehmenssprecher für Personal und Soziales, schätzt: "70 Prozent davon kommen aus einem Umkreis von 50 Kilometern." Zimny weiß auch: "Im ländlichen Raum gibt das Elternhaus immer noch die Richtung für den beruflichen Lebensweg vor." Weshalb Rebecca Nachreiner, wie ihr Vater zuvor, im Werk nicht nur arbeiten, sondern auch beruflich weiterkommen will. 2013 wird sie die Meisterausbildung beginnen, später selbst Lehrlinge betreuen: "Ich möchte zurückgeben, was ich bekommen habe." Und wenn man sie fragt, was sie dabei vermitteln wolle, sagt sie: "Die Einstellung zur Arbeit, zur Firma; unser Ausbilder sagte immer: 'Ich verbringe mehr Zeit mit euch als mit meiner Frau, also strengt euch an.'"
Natürlich wird auch ihre jüngere Schwester Isabell demnächst in der Firma eine Lehre beginnen; sie will Mechatronikerin werden. Und vermutlich denkt sie wie die große Schwester, die sagt: "Ich würde wetten, dass ich immer bei Audi bleibe."
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Ingolstadt hat 125000 Einwohner und zählt zu den am schnellsten wachsenden Städten Deutschlands. Im Großraum leben etwa 190000 Menschen, und wenn man Kinder und Rentner unberücksichtigt lässt, kann man davon ausgehen, dass in der Gegend jeder entweder für Audi arbeitet, mit jemandem verwandt ist oder zumindest jemanden kennt, der bei Audi arbeitet. Und es liegt primär an dem Unternehmen, dass Ingolstadt zu den wirtschaftlich am stärksten wachsenden Kommunen des Landes gehört, begünstigt auch durch zahlreiche Zulieferbetriebe, die ebenfalls Tausende beschäftigen. Die Arbeitslosenquote liegt unter drei Prozent. Überdurchschnittliche Bezahlung, betriebliche Altersversorgung, Ergebnisbeteiligung für die Stammbelegschaft; zuletzt wurden im Jahr durchschnittlich 8251 Euro pro Person ausgeschüttet - das wären auch in Ballungsräumen gute Gründe, für diese Firma zu arbeiten. In der ländlichen Region ist der große industrielle Arbeitgeber aber mehr als eine Wahl. Er ist der Mittelpunkt, verhilft zu Wohlstand und bestimmt das Denken der Menschen, für die er zum Identitätsstifter geworden ist. Das gilt für Opel in Rüsselsheim, BMW in Dingolfing, VW in Wolfsburg, Bayer in Leverkusen oder Wuppertal. Audi ist Ingolstadt, Ingolstadt ist Audi. Wer weiß schon, dass in der sechstgrößten Stadt Bayerns 1516 das bayerische Reinheitsgebot für Bier erlassen und 1776 der Illuminatenorden gegründet wurde? Oder dass Ingolstadt 400 Jahre lang bayrische Landesfestung war? "Wenn bei uns in der Gegend jemand sagt, er arbeite bei Audi", sagt Günter Fürholzer, "sagen die Leute: 'Oh, du hast es geschafft'."--
Audi Forum. Vor dem Gebäude A51, das den Namen "Markt und Kunde" trägt. Gegenüber das Museum. Hinter einem weiten Platz der Pavillon, in dem Kunden ihren Neuwagen übernehmen. Günter Fürholzer steht neben einem schwarzen A8L; L für Langversion. Zwölf Zylinder. Allradantrieb. 500 PS. Über eine Konsole im Fond lassen sich zwei Bildschirme bedienen. Radio. Internet. Sitzheizung. Preis: 217000 Euro. Sein Dienstwagen. Fürholzer betreut als Chauffeur die Vorstände.
Auch Fürholzers Geschichte passt zur Schablone der Region. Aufgewachsen in Lichtenau, Gemeinde Weichering, Postleitzahl 86706, wo Kirche und Schulhaus noch mitten im Dorf stehen und schmucke Einfamilienhäuser zwischen alten Bäumen. Der Vater hat Dreher gelernt und ging zu Audi. Der Sohn ging zu Audi und lernte Dreher. "Mein Vater hat mir das immer empfohlen - man weiß ja, der macht das, weil er glaubt, es ist gut für dich." Dass die Firma gut war für den Vater, hat Fürholzer schon als Kind verstanden. Der Vater ernährte als Handwerksmeister eine sechsköpfige Familie und baute ein Haus. Fürholzer: "Für mich war früh klar: Wenn ich da rein kann, gehe ich da rein und baue mir auch ein Haus."
Er konnte rein. Über die Arbeitsvorbereitung, wo er an der Nullserie des C4 werkelt, wie der Audi 100 intern genannt wurde, kommt Fürholzer zur Presse- und VIP-Abteilung. Ein großer, schlanker, ruhiger Mann, der sagt: "Wenn ich 99 Prozent Arbeitsleistung bringe, fehlt etwas." Für ihn unvorstellbar, es ginge etwas schief bei den Autos, die Journalisten und Prominenten zur Verfügung gestellt werden. Als 1994 ein Kollege in Pension geht, fragt man Fürholzer, ob er nicht Vorstandsfahrer werden wolle. Heute ist er zu den Flughäfen nach München und Nürnberg unterwegs oder zum Flugplatz nach Manching, wenn die Herren per Privatjet reisen. Fürholzer ist in Davos beim Weltwirtschaftsgipfel im Einsatz und bei Automobilmessen in Frankfurt, Genf oder Paris. "Du fährst bei Regen, Schnee und Nebel", sagt er, "du darfst nicht nervös werden, musst immer höflich bleiben, das muss einem gegeben sein."
Das Haus ist gebaut, der Sohn erwachsen. Er hat es geschafft. Doch Fürholzer ist kein Mann, der über sich redet. Wenn Fürholzer redet, dann über Audi, Audi, Audi. Zimny, der vor einem Jahr nach Ingolstadt kam, erinnert sich, dass ihm zuallererst auffiel, "wie stolz die Leute hier darauf sind, was aus Audi geworden ist". Wer durch die Fachpresse blättert, dem begegnen fast ausschließlich positive Schlagzeilen. Audi schlägt Mercedes-Benz. Die Marke mit den vier Ringen dominiert den chinesischen Markt bei Limousinen. Man müsse sich das nur vorstellen, sagt Fürholzer: "Als ich kam, hatten wir ein Hosenträger-Image." Soll heißen: Man produzierte Fahrzeuge für ältere, biedere Männer. Dass sich das geändert habe, sei eine "großartige Leistung, zu der wir alle beitragen durften".
Leistung. Wir. Durften. Drei Worte, die viel aussagen über das Selbstverständnis von Audianern. Die, so Fürholzer, nie woanders arbeiten, nie einen Wagen einer anderen Marke fahren würden. Absolute Loyalität. Wenn er eine andere Automarke auf dem Betriebsparkplatz sehe, schließe er: "Das gehört wohl einem Leiharbeiter - oder einem, der ein Auto geerbt hat, und es lohnt nicht, es zu verkaufen." Und natürlich habe dieses Selbstverständnis auch seinen Sohn geprägt. Der Sohn hat im Werk Fertigungsmechaniker gelernt, schließt demnächst die Industriemeister-Ausbildung ab. "Ich sag mal so", sagt Fürholzer, "wenn er etwas anderes hätte werden wollen, wäre es auch okay gewesen." Wäre. Nicht dass das jemals ein Thema war. "Immer diese Sicherheit, immer einen guten Verdienst", sagt Fürholzer, "das ist schon Wahnsinn." Ob sein Sohn das auch haben werde, in diesen turbulenter gewordenen Zeiten? "Das wird er schon auch haben, wenn er es sich nicht verbaut."
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2011 verkaufte sich die Marke Audi mehr als 1,3 Millionen Mal, ein Plus von 19,2 Prozent gegenüber 2010. Der Umsatz stieg auf 44,1 Milliarden Euro, plus 24,4 Prozent. Das operative Ergebnis lag bei 5,4 Milliarden Euro, die operative Umsatzrendite bei 12,1 Prozent. Die Verkaufszahlen sollen bis 2015 auf 1,5 Millionen Stück steigen. Mit dem Boom wächst das Personal. Die Audi AG, die an ihrem zweiten deutschen Standort Neckarsulm weitere 13000 Mitarbeiter beschäftigt, wird in diesem Jahr 2000 neue Mitarbeiter einstellen und 700 Auszubildende mit unbefristeten Verträgen übernehmen. Darüber hinaus werden 700 von insgesamt 2500 Leiharbeitern zu Tarifkonditionen übernommen. Dass die verbliebenen Leiharbeiter weiter reduziertes Urlaubs- und Weihnachtsgeld erhalten, auch keine Betriebsrente oder Erfolgsprämie, wird allerdings von Gewerkschaftsvertretern heftig kritisiert. Wie auch der Umstand, dass das Unternehmen keine Angaben zu Beschäftigten mit Werksvertrag macht, deren Entlohnung noch niedriger ist als die der Leiharbeiter. Johann Horn, der für die IG Metall bei Audi im Aufsichtsrat sitzt, sagt: "Dass also eine Werksvertragsfirma sich Leiharbeiter holt und dann unter dem Deckmantel Werksvertrag an Audi ausleiht, ist schon eine besondere Gefahr, denn da werden alle Besservereinbarungen, die wir zu Leiharbeit haben, vollkommen unterlaufen."--
2002. Michael Binner ist 14 und besucht die neunte Klasse der Realschule Manching. Er hat keine Vorstellung, was er später beruflich machen möchte. Dem Vater nacheifern, der beim MTV Ingolstadt und der Spielvereinigung Unterhaching in der Bayernliga Fußball spielte? Binner: "Das fußballerische Talent habe ich leider von der Mama geerbt." Da bietet die Audi AG diverse Praktika an. Binner entscheidet sich für Mechatronik. Er lernt, wie man einen elektronischen Würfel baut. Er ist begeistert. "Wir waren zwölf Jugendliche, wir kannten uns nicht, haben uns aber sofort verstanden, alle hat die Materie total fasziniert." Er wusste: "Das will ich machen."
Heute ist Binner gelernter Elektroniker und Technischer Sachbearbeiter in der Abteilung PI 433, Instandhaltung. "Mit 24", so Binner, "ist das schon jetzt ein guter beruflicher Werdegang." Doch er hat größere Pläne. Nach seiner Lehre hat er ein vierjähriges Fernstudium am DAA-Technikum Osnabrück abgeschlossen, seit einem Jahr studiert er an der Wilhelm Büchner Fernhochschule in Darmstadt. Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen. 2015 will er dieses Studium abgeschlossen haben. Und was er dann mit seinem Bachelor of Engineering anstellen möchte, weiß er schon heute: "Mein Ziel ist eine leitende Position im Management. Ich möchte bei Audi so weit kommen wie möglich."
Natürlich hat auch Binner über die Familie eine Beziehung zur Firma. Schon die Großmutter arbeitete in Ingolstadt am Band. Der Vater setzte statt auf eine riskante Karriere als Profifußballer lieber auf eine berechenbare als Modellbauer bei Audi. Doch die hat der junge Mann wohl weniger als Vorbild im Sinn. Schon eher jemanden, dem Fürholzer in seiner täglichen Arbeit begegnet. Audis Vorstandsvorsitzender Rupert Stadler kommt aus Titting im Landkreis Eichstätt; auch einer aus dem 50-Kilometer-Radius. Stadler wuchs auf einem Bauernhof auf, musste dort schon früh anpacken. Nach einem BWL-Studium an der Fachhochschule Augsburg kam er 1990 zur Audi AG, ging nach Spanien, dann nach Wolfsburg zur Konzernmutter Volkswagen, kam nach Ingolstadt zurück als Vorstandsmitglied und Leiter des Ressorts Finanzen und Organisation und leitet das Unternehmen seit 2007. Wenn der das kann, kann er das auch? Binner: "Dieses Unternehmen gibt jedem, der etwas erreichen will, eine faire Chance."
Das Unternehmen tut das keineswegs aus selbstlosen Gründen. Wegen des demografischen Wandels wird der Kampf um qualifizierten Nachwuchs bald zu einem überlebenswichtigen Faktor. Bis 2025, prognostiziert der Unternehmens- und Strategieberater McKinsey, fehlen in Deutschland 2,4 Millionen Akademiker. Schon heute sind Absolventen bestimmter Fachrichtungen, darunter Ingenieurwissenschaften, knapp und begehrt. "Wir haben einen ganzen Strauß von Maßnahmen", sagt Audis Personalvorstand Thomas Sigi. Dazu gehören Kampagnen in klassischen Medien bis hin zu Sozialen Netzwerken, Angebote für junge Leute vom Schüler - wie Praktika, die Binner durchlaufen hat - bis hin zum Doktoranden. Zwar tut sich ein Autobauer leichter, ein Image als attraktiver Arbeitgeber aufzubauen, da seine Produkte omnipräsent sind, auf der Straße, in der Werbung. Doch gerade in der Autobranche ist die Konkurrenz hierzulande groß.
Umso besser, wenn Leute wie Binner schon Loyalität aufgebaut haben, bevor der Wettbewerb um Talente sich zuspitzt. Binner läuft durch die Halle, in der sich die Abteilung PI 433 befindet. Schilder mit der Aufschrift "VBH Tauchpassivieren" und "VE Tauchströmen". Hinter beschlagenen Glasscheiben gleiten Karosserien in mit Wasser gefüllte Bassins. Der Laie sieht Blechskelette beim Baden. Binner sieht den Rahmen für "sportliche, elegante Autos mit überragendem Styling". Wenn er sich mit seinen Freunden treffe, sprächen sie immer auch "über das Produkt". Die Hälfte seiner Freunde arbeitet bei Audi. Binner: "Wir bauen einfach tolle Autos."
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"Loyalität ist die positive Verzerrung der Wahrnehmung von kritischen Ereignissen in einer Beziehung. Besteht Loyalität, so werden negative Ereignisse durch eine positive Verzerrung weniger belastend für die Beziehung bewertet. (...) Loyalität ist stark abhängig von der Beziehungsvergangenheit. Neutrale Beziehungen (ohne Loyalität) sind gekennzeichnet durch einen weitgehend linearen Zusammenhang von Zufriedenheit mit der Beziehung und Verbleibewahrscheinlichkeit in der Beziehung. Im Gegensatz zu einer neutralen Beziehung bleibt die Verbleibewahrscheinlichkeit in Beziehungen mit einer positiven Vergangenheit (und damit wirksamer Loyalität) selbst bei deutlicher Unzufriedenheit auf einem hohen Niveau. Das bedeutet, selbst bei Unzufriedenheit mit der Beziehung führt Loyalität zur Aufrechterhaltung der Beziehung. Erst bei sehr starker Unzufriedenheit ist mit einem plötzlichen Abbruch der Beziehung zu rechnen." (Quelle: Wikipedia)--
Wenn Helmut König von seinem Schreibtisch aufsteht und ans Fenster geht, blickt er über das Audi-Werk. Betonkästen mit Giebeldächern, Flachdächern, dazwischen Bahngleise und ein alles überragender beigefarbener Schornstein. König, 61, buschiger grauer Schnurrbart, hohe Stirn, trägt einen silbernen Sticker am Revers: Audis vier Ringe, die seit 1932 symbolisieren, dass das Unternehmen auf den Zusammenschluss der Firmen Audi, DKW, Horch und Wanderer zurückgeht. 1949 begann die neu gegründete Auto Union GmbH, aus der wiederum die Audi AG hervorging, in Ingolstadt Motorräder, Lkw und Pkw zu produzieren.
"Um das Unternehmen zu verstehen", sagt König, "muss man die Zeit verstehen, in der es begonnen hat." Und dann erzählt er von Bombentrichtern, in denen er als Kind gespielt hat, dass, als er schon zur Schule ging, "noch vieles kaputt war in Ingolstadt". Leute wie er seien mit dem Wunsch groß geworden, etwas aufzubauen, etwas Solides zu machen. "Wer etwas Gescheites lernen wollte, dachte an einen Industrieberuf." Werkzeugmacher etwa. "Das galt als top und war ein Eliteberuf." Und so wurde König Werkzeugmacher bei der Auto Union. Bereut hat er das nie. "Im Werkzeugbau", sagt König, "wurde man auf Präzision getrimmt, da kam es auf Hundertstelmillimeter an. Da habe ich gelernt, exakt zu arbeiten. Darauf geht bis heute mein Verständnis von Disziplin und Sorgfalt zurück."
Es sind die Tugenden, die ihn begleitet haben auf seinem Weg durch das Unternehmen. Vom Werkzeugbau über die Produktion zum Techniker mit REFA-Ausbildung, Leiter Konzeptplanung, Leiter Technologieentwicklung bis zu seiner aktuellen Position: Leiter Planung Elektro- und Automatisierungstechnik für Karosseriebau, Lackiererei, Montage und Fördertechnik und deren Komponenten. Klingt kompliziert. "Ach was", sagt König, "wenn man einfach strukturiert fragt, mit gesundem Menschenverstand nach Lösungen sucht und sich nicht von Fremdwörtern drausbringen lässt, ist die Welt überall einfach zu verstehen."
Wenn König aus dem Büro seines Fensters blickt, dann sieht er keine Gebäude, keine Industrielandschaft, sondern den Schauplatz von "Entwicklung". Von Produkten und Menschen. "Ich hatte doch nicht mal Abitur", sagt König. "Wenn Audi nicht nach Leistung, sondern nach akademischen Titeln gefördert hätte, hätte ich nie werden können, was ich geworden bin." Schwierige Anfänge. Investition in Ideen und Talente. Das schafft Motivation. König: "Audi unterscheidet sich von anderen Autobauern insofern, als wir immer besser sein wollten, als wir waren; wir wollten denen im Norden und Süden immer zeigen, was Sache ist." Im Norden VW, die Konzernmutter, "gegenüber der wir uns immer rechtfertigen mussten, die immer fragte: 'Warum macht ihr das so und so?'" Im Süden BMW und Mercedes-Benz, deren Autos keine Assoziationen von Hosenträgern auslösten. "Wir waren zu Innovationen gezwungen. Seit Auto-Union-Zeiten hat Audi nie etwas geschenkt bekommen." Von 1995 bis 2000 war König Mitglied im sogenannten Audi-Traumteam. "Wir durften die Zukunft von Audi planen. Der A8 ist da kreiert worden. Wir sind nach Paris gefahren, um bei Juwelieren zu beobachten, wie sich Leute verhalten, die 100000 D-Mark für Schmuck ausgeben. Wir trafen uns abends mit Künstlern und Andersdenkenden."
Wollte man es pathetisch formulieren, könnte man sagen: Bei Audi sind die Menschen mit dem Unternehmen gewachsen. Und umgekehrt. Es würde jedenfalls erklären, warum sie alle von Stolz und Identifikation reden. Warum sie wie von einer Familie sprechen und nicht von einer Firma. Warum sie einem Geschichten erzählen wie die von den beiden Männern, die 1983 mitten in der Nacht eine Dinnerparty in den Schweizer Alpen verließen und mit strahlenden Gesichtern zurückkamen. Der Dirigent Herbert von Karajan und Fiat-Chef Giovanni Agnelli waren in einem Audi Quattro über den Julierpass gefahren. Nicht zu vergessen die blumigen Erzählungen über die Erfolge im Motorsport. "Wir kommen bei der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft als Erster, Zweiter, Dritter und Vierter über die Ziellinie - da haben Sie schon mal Tränen in den Augen."
Kürzlich hat Helmut König einen Job besetzt. Seine Assistentin hatte sich innerhalb der Firma verändert. "Alle Bewerberinnen, die vorsprachen, waren hoch motiviert." Jeder Mensch, sagt König, strebe nach Selbstverwirklichung, "doch im Beruf brauchst du auch eine Firma, die Motivation verkörpert, und die Motivation, etwas werden zu wollen, die kommt bei Audi traditionell aus der Marke." Wie war das gleich noch mal, damals in Wien, beim Managementtreffen mit Ehepartnern? "Wir verkauften damals 350 000 Autos jährlich, und die sagten, das Ziel sei 700000", so König: "Wir dachten, das ist verrückt, wie soll das gehen? Sieben Jahre später waren wir da." Bis 2015 Marktführer im Premiumsegment? König: "Das schaffen wir, so denken hier alle." Und weil er dabei sein will, ging er auch nicht vorzeitig in Rente, obwohl ihm das zu lukrativen Konditionen angeboten wurde.
Ist das Loyalität? Darüber muss König nicht lange nachdenken. "Ach, Loyalität ist immer auch Charaktersache, egal für wen man arbeitet, aber wenn man eine gute Zusammenarbeit hat, Anerkennung für seine Leistung erfährt und sich kreativ entfalten kann, verstehe ich nicht, wie man nicht loyal sein könnte." -