- Die Armenviertel von San Agustín liegen an einem Berghang im Zentrum von Caracas. Ein Hüttenlabyrinth aus Ziegeln, Wellblech und Schrott. Auf steinigem Boden, überzogen von Kabelsalat, durchschnitten von schmalen Gassen und steilen Treppen. Nicht selten hausen zwei Familien, drei Generationen, zehn und mehr Menschen in einem Raum. Es gibt keine Kanalisation, kein fließendes Wasser. Überall Müll, Gewalt, Kriminalität, Drogenbanden. Diese Viertel sind die Prototypen eines Slums, nur dass sie in Venezuela Barrio dazu sagen.
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Eine Monocable Gondola Detachable (8-MGD) ist eine kuppelbare Seilbahn mit Kabinen für acht Personen. Sie wird hergestellt von der Firma Doppelmayr Seilbahnen GmbH in Wolfurt bei Bregenz. Die 8-MGD, die in San Agustín steht, verfügt über eine Bergstation, zwei Tal- und zwei Winkelstationen. Ihre 50 Kabinen erreichen eine Geschwindigkeit von 18 km/h. Die Bahn ist 1721 Meter lang, führt den Hang des Berges hinauf, waagerecht an dessen Kamm entlang und wieder hinunter. Die Bergstation heißt La Ceiba, die Talstationen heißen San Agustín und Parque Central, die Winkelstationen El Manguito und Hornos de Cal.
Das Barrio allein wäre keine Geschichte. Die Seilbahn noch weniger. Slums und die dort herrschenden Lebensumstände sind umfassend dokumentiert. Die Seilbahn ist zweifelsohne österreichische Qualitätsarbeit, aber doch Dutzendware, überall auf der Welt zu finden, auf Skipisten, in bergigen Erholungsgebieten, auch als Fortbewegungsmittel in Großstädten kommt sie zum Einsatz.
Es geht um die Verbindung: Slum und Seilbahn. In Medellín in Kolumbien gibt es das bereits. Doch die Haltepunkte der beiden Seilbahnen in Medellín wurden nicht als soziale Einrichtungen konzipiert und auch nicht an das Nahverkehrssystem der Stadt angebunden, wie die von San Agustín, die Anschluss an die Metro von Caracas hat. Teleférico para Transporte Masivo Interurbano. So heißt sie offiziell. Drahtseilbahn für innerstädtischen Massentransport. Und wenn es nach Hubert Klumpner und Al fredo Brillembourg ginge, könnte genau dieses Prinzip "weltweit zum Maßstab werden".
Businessviertel El Rosal, das Büro von Urban Think Tank (U-TT). Klumpner, geboren und aufgewachsen in Salzburg, hat in New York an der Columbia University Architektur mit Schwerpunkt Städtebau studiert. Dort traf er auf Brillembourg, einen Venezolaner mit niederländischen Vorfahren. Klumpner hätte nach seinem Diplom Villen auf Long Island bauen können, doch er ging nach Caracas, wurde Partner bei Brillembourgs U-TT und baut seither Waisenhäuser, Schulen für autistische Kinder oder Sporthallen. 2002 veranstaltete U-TT ein Projekt mit der weltweit tätigen deutschen Kulturstiftung des Bundes. Ein Team sollte die informelle Stadt erforschen und Strategien für die Aufwertung von Slums entwickeln. Studienobjekt: San Agustín.
"Das Thema ist ein Klassiker", sagt Brillembourg, "seit es Städte gibt, gibt es die Dichotomie des Formellen und Informellen." Mit anderen Worten: hier der geplante, strategisch bebaute und dort der unkontrolliert, sich spontan entwickeln de Raum, dazwischen eine Kluft. Brillembourg sagt: "Die Herausforderung ist, die Grenzen zwischen beiden Räumen zu eliminieren..." Sanfte Obsession scheint die beiden zu treiben. Klumpner ergänzt: "...damit die Slums nicht verwahrlosen, sondern vielmehr zu einer Ressource der Stadt werden." Das gelte, sagen sie, insbesondere für die Barrios wie die von San Agustín, begrenzt von einem Fluss, einer Autobahn, einer Schnellstraße, dichter Vegetation und steilen Hängen. Klumpner: "Außer der Fußgängerbrücke über die Autobahn gab es vor der Seilbahn praktisch keinen Zugang."
Gondeln für die Autostadt
Die Barrios von San Agustín gehören zu den ältesten in Caracas und bestanden aus einem Haufen Verschläge um einen Bahnhof. 1955 begann nebenan der Bau des Bürokomplexes Helicoide, weshalb sich dort viele Arbeiter niederließen. Später entstand unten am Fluss das Verwaltungszentrum Parque Central mit mons trösen Bürogebäuden und zwei Türmen, 56 Stockwerke, 225 Meter hoch.
Verkehrstechnisch integriert wurden die Barrios dennoch nie; der Bau einer Straße, für die ein Drittel der Behausungen hätten verschwinden müssen, wurde von den Bewohnern vehement bekämpft. "Alle sahen nur einen Berg voller Hütten", sagt Klumpner. "Wir sahen ein Haus so hoch wie ein Berg." Sie fragten sich: "Wo ist der Lift für dieses Haus?" 2003 stellte U-TT ein Konzept für eine Seilbahn vor. "Natürlich wurden wir belächelt."
Anderntags kommen Luis und Charli in das Büro von U-TT. Sie sollen uns in die Barrios von San Agustín bringen, deren kriminelles Milieu berüchtigt ist. Das sollte man ernst nehmen. Caracas gilt als eine der gefährlichsten Großstädte der Welt. Eine fürsorgliche Eskorte ist dringend angeraten, und Luis und Charli sind dafür bestens geeignet. Sie leben in Santa Rosalía, einem Viertel in der Nähe von San Agustín. Luis ist dort gewählter Vertreter, bezieht ein bescheidenes Gehalt und kümmert sich um die Belange der Bewohner: "Dinge wie Gesundheit, Sauberkeit, Kultur." Was das konkret bedeutet? "Viel Papierkram." Luis sagt, er habe natürlich auch diverse "Beschäftigungen im informellen Sektor". Welche das sind, erfährt man nicht.
Als die Seilbahn gebaut wurde, arbeitete Luis als Kontaktmann und Vermittler für U-TT. Auf seinem Ausweis steht: Comisión de Seguridad Ciudadana. Kommission für Bürgersicherheit. Charli hat keinen Ausweis. Er hat auch auf mehrfache Nach frage keinen Nachnamen. Was er im Gegensatz zu Luis hat, ist ein Auto. Wir wollen zuerst zur Bergstation der Seilbahn, La Ceiba, die nur mit dem Auto zu erreichen ist. Und so beginnt eine Fahrt, bei der Start und Ziel kaum voneinander zu unterscheiden sind und auch keine Etappen dazwischen. Der venezolanische Schauspieler und Dramaturg José Ignacio Cabrujas hat einmal gesagt: "Ich lebe in einer unmöglichen Stadt, und obwohl ich ihre Straßen kenne, bleibt mir kaum eine Erinnerung zurück, wenn ich mich in ihr von einem Ort zum anderen bewegt habe."
Caracas, Hauptstadt der República Bolivariana de Venezuela. Die Schätzungen schwanken zwischen vier und fünf Millionen Einwohnern inklusive aller Vororte. Eine bizarre Metropole, die sich in ein von Ost nach West verlaufendes Tal der Küstenkordilleren zwängt, getrennt vom Atlantik durch den 2250 Meter hohen, so majestätisch wie düsteren Ávila. Es mag eine Ironie der Natur sein, dass sie diese dramatische Kulisse ausgerechnet für eines der brutalsten städtebaulichen Laboratorien gewählt hat.
1920 lädt der damalige Diktator Juan Vicente Gómez Unternehmen aus den USA ein, das venezolanische Erdöl zu fördern. Jahre später kommt Nelson Rockefeller nach Venezuela, der neben einer Erdölfirma seiner Standard Oil und anderen Betrieben auch eine Stiftung für Stadtentwicklung gründet. Rockefeller fühlt sich berufen, Venezuelas Hauptstadt in die Moderne zu führen. Platz ist da, Geld ist da. Rockefeller bringt berühmte Architekten wie Wallace Harrison oder Robert Moses nach Caracas. Man spricht vom Proyecto de Futuro.
Das Projekt Zukunft ist eine in Beton gegossene Hymne auf das Auto. Es entstehen Stadtautobahnen, die sich wie Schluchten zwischen hastig hingestellte Klotzarchitektur graben, es entstehen aufgeständerte, teils zweigeschossige Trassen, deren Zu- und Abfahrten so grotesk verschlungen sind, dass man sie Araña (Spinne) oder Pulpo (Krake) nennt. Caracas bekommt das erste Autokino Südamerikas, es bekommt Autobanken, Autorestaurants, Autocafés, vollautomatische Parkhäuser. Autosalons, und Tankstellen werden zu Artefakten. Und so entsteht auch der Helicoide, geplant als Shoppingcenter mit sechs Etagen, zu erreichen über eine ansteigende, in einen Hügel gefräste Doppelspirale.
Nach etwa 20 Minuten Autofahrt taucht die absurde Konstruktion auf; der Helicoide wurde nie als Shoppingcenter eröffnet, sondern diente lange als Sitz des Geheimdienstes. Charli nimmt eine Abzweigung, steuert den Wagen auf eine kleine, kurvige Straße, vorbei an Gestrüpp und Geröll, bis der Wagen vor einer Reihe neu gebauter Apartmenthäuser stoppt. Daneben thront die Bergstation La Ceiba. Sie sieht aus wie ein Raumschiff auf einem Schuttberg. Dahinter eines der Barrios.
Luis pfeift auf den Fingern und ruft nach Marlin. Frauen strecken ihre Köpfe aus den Fenstern, zwischen der trocknenden Wäsche. Fußgänger gaffen. Kinder staunen. Als die Seilbahn gebaut wurde, mussten 265 Hütten abgerissen, 273 Familien umgesiedelt werden. Für sie wurden die Apartmenthäuser gebaut. Marlin Hernandez war an der Verteilung der Wohnungen beteiligt. Schon ist sie da, eine kleine, kugelige Frau mit kurzen Beinen und einem abgebrochenen Schneidezahn.
Es ist gut, mit jemandem wie Marlin im Barrio unterwegs zu sein. Sie kennt die unsichtbaren Grenzen, die aktuellen Machtverhältnisse, stellt ihren Besuch überall vor, gestenreich und ein wenig zu laut. Als würde sie Steine ins Wasser werfen, damit sich die Botschaft ausbreitet wie Wellen. Durch einen Zaun hinter der Seilbahnstation, hinein in die unverputzten, rostroten Ziegelsteinhütten. Manche haben nur Decken anstelle von Türen, andere Gitter statt Glas in den Fenstern. Auf einer Treppe sitzt ein Teenager mit glasigem Blick. Luis kennt ihn: "Hier haben wir einen unserer bösen Buben." Der Junge nuschelt irgendwas und grinst. Klumpner erzählt von Fotos, die sie 2002 für das Kulturstiftungsprojekt von Jugend lichen machten: "Viele sind heute tot." Dann in ein größeres Haus, von dessen Terrasse man die Barrios überblicken kann.
Was man sieht, ist typisch für Lateinamerika. Nicht nur in Caracas, nicht nur in Millionenstädten wie Quito, Bogotá oder La Paz, fast überall in Lateinamerika entstehen Armenviertel in unzugänglichem Gelände, das für reguläre Bebauung kaum zu erschließen ist. Das verstärkt ihre Isolation, potenziert ihre Probleme. Über die Hälfte der Menschheit lebt bereits in Städten, Tendenz steigend, fast immer sind Armut und Arbeitslosigkeit die Ursache. Klumpner und Brillembourg erforschen das Thema seit Jahren. An der Columbia University in New York, wo sie inzwischen lehren, haben sie ein Slum-Lab eingerichtet. "Neun von 15 Kindern leben in Slums", sagt Klumpner, "man kann sie nicht abschaffen, wir müssen aus Zonen der Armut vielmehr Zonen des Wachstums machen, sonst eskaliert die Situation."
So, sagen sie bei U-TT, müsse man auch die Seilbahn verstehen. Klumpner: "Eine Seilbahn allein kann keine Lösung sein, aber sie kann das Fundament für eine Lösung sein." Wer aus den Barrios früher zur Metro am Parque Central wollte, musste bis zu 600 Stufen hinabsteigen, war bis zu 45 Minuten unterwegs. Die Seilbahn braucht fünf Minuten. Händler, Handwerker, Tage löhner verlieren nicht Stunden auf dem Weg zur und von der Arbeit, sie müssen nach Einbruch der Dunkelheit aus Angst vor Überfällen nicht mehr außerhalb der Barrios übernachten. Kranke, Verletzte kommen schneller ins Krankenhaus; die Polizei ist schneller am Tatort, Alte sind mobiler.
Die vielen Untergruppen in den Barrios, die sich häufig bekriegen, müssen sich nun zwangsläufig näher kommen. Noch steht vom Stadtteilzentrum, das U-TT geplant hat, erst das Stahlgerüst. Doch wenn es fertig ist, wenn dort die Sportplätze, die Bibliothek, der Computerraum eingerichtet sind, wenn an den anderen Stationen der Supermarkt, die Apotheke, die Radio station und das Musikstudio eröffnen, so Klumpner, "kann sich das Konzept voll entfalten".
In Medellín haben die Seilbahnen die Barrios schon geprägt. Nicht nur, dass die Bewohner sie beschreiben als "Poesie in den Wolken"; sie verschönern ihre Hütten, säubern die Gassen, weil sie nun von oben einsehbar sind. Die Kriminalität in beiden Barrios, sagt Brillembourg, sei seit der Eröffnung der Seilbahnen deutlich zurückgegangen.
Psychologie spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die Seilbahn ist ein Statement. Es besagt: Die Politik tut etwas für das Barrio; die Menschen des Barrios sind nicht minderwertig. Das reduziert Verbitterung und Aggression, fördert Selbstbewusstsein und Zuversicht. Sergio Fajardo, der ehemalige Bürgermeister von Medellín, der die dortigen Seilbahnen initiierte, sagte: "Unsere schönsten Gebäude müssen künftig in unseren ärms ten Gegenden stehen." Auch in Rio de Janeiro wird bereits an einer Seilbahn gebaut, die die Favelas auf sechs Hügeln miteinander verbinden wird.
Martin Schöffel sagt: "Für die Seilbahnbauer könnte das ein Riesenmarkt werden." Schöffel ist eine stattliche Erscheinung. Er trägt ein blau-weiß gestreiftes Hemd und einen nachtblauen Blazer mit Goldknöpfen. Vor 33 Jahren kam er nach Venezuela. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften bekam er das Angebot, für Vöest die Konstruktion eines Stahlwerkes am Orinoco-Fluss zu betreuen. "Sie sagten: Venezuela -schönes Wetter, schöne Strände, schöne Frauen, Samba." Bis auf die Samba hatten sie nicht zu viel versprochen. Schöffel blieb, heiratete und hat inzwischen drei erwachsene Kinder. Die Geschäfte seiner Firma Promociones Munich, C.A. drehen sich um Aluminium, ein wenig Medizintechnik und neuerdings Seilbahnen.
Das ist umso angenehmer, als Seilbahnen zur Familientradition gehören. Schöffels Vater war Direktor mehrerer Seilbahnfirmen, Vorsteher der Sektion Seilbahnen in der österreichischen Wirtschaftkammer. Und er war Freund und Syndikus von Artur Doppelmayr, dessen Großvater Konrad 1892 in Wolfurt bei Bregenz eine Hammerschmiede eröffnete. Konrads Sohn Emil war 1937 in Zürs am Arlberg an der Konstruktion des ersten Skilifts beteiligt und baute seine erste Seilbahn in Kanada, ohne dass er ein Wort Englisch sprach. Unter Artur stieg Doppelmayr 1972 in die kuppelbare Technik ein. Der aktuelle Firmenchef, Arturs Sohn Michael, sagt gern: "Wir sind ein wild gewordener Handwerksbetrieb."
Mittlerweile operiert Doppelmayr, das vor einigen Jahren mit dem Schweizer Unternehmen Garaventa fusionierte, in 80 Ländern. Die Firma hat 2660 Mitarbeiter, setzte im abgelaufenen Geschäftsjahr 616 Millionen Euro um und hat einen Weltmarktanteil von etwa 60 Prozent. Das Kerngeschäft sind weiterhin Seilbahnen für den Wintersport, auch wenn es infolge des Klimawandels zurückgegangen ist und auch unter der Finanzkrise litt.
Die Kernkompetenz ist Innovation. Wie bei der sogenannten 3S-Bahn, mit der Doppelmayr zwischen Whistler Mountain und Blackcomb Mountain in Kanada einen Weltrekord in Höhe und Spannweite aufstellte; wie bei den beheizten Sesselliften oder den seilgezogenen Transportbändern für den Bergbau. Es geht um Preis, Effizienz und Umweltfreundlichkeit. "Egal ob Kosten, Kapazität, Fahrtdauer oder Emissionen, die Seilbahn ist in aller Regel jeder Straße oder Brücke überlegen", sagt Doppelmayrs Sprecher Ekkehard Assmann. Allein in Algerien hat Doppelmayr vier Seilbahnen für den städtischen Nahverkehr gebaut.
Wie die 8-MGD nun letztlich ins Barrio kommt, ist eine von Schöffels Lieblingsgeschichten. Sie beginnt im Mai 2006 mit dem EU-Lateinamerika-Gipfel in Wien. Venezuela wird vertreten duch Hugo Chávez, dem charmante Begleitung zugeteilt wird. Die damalige Botschafterin Österreichs in Caracas erzählt von den schönen Bergen und den vielen Seil- und Gondelbahnen. Chávez ist begeistert und macht das Thema zur Chefsache. Daraufhin nimmt Metro de Caracas die brasilianische Baufirma Odebrecht und über Schöffel auch Doppelmayr unter Vertrag.
Das Problem dabei: Doppelmayr hat noch nie in einem Slum gearbeitet. Odebrecht hat noch nie eine Seilbahn gebaut. Metro de Caracas hat logischerweise keine Ahnung. Der für die Bauleitung zuständige Ingenieur der Metro, César Núñez, erzählt:
"Irgendjemand sagte: ,Wer sind gleich noch mal diese verrückten Architekten, die mal eine Seilbahn bauen wollten?'" So kommt U-TT zum Auftrag, das Konzept zu erstellen. Im Herbst 2007 beginnen die Bauarbeiten, zur Eröffnung am 20. Januar 2010 hält Chávez eine fünfstündige Rede.
Hugo Rafael Chávez Frías, Sohn eines Dorfschullehrers, Sozialist und seit 1999 Staatspräsident. Allein im Januar dieses Jahres wertete er die Landeswährung Bolívares um die Hälfte ab; er enteignete die Tochterfirma einer französischen Supermarktkette; er entzog einem regierungskritischen TV-Sender die Lizenz. Der Präsident ist ständig im Fernsehen, trägt dabei feuerrote T-Shirts unter olivgrünen Armeeblousons, liest aus Akten vor, schwafelt über Baseball und Finanzkrise und geißelt den US-amerikanischen Imperialismus.
1999 gab es in Venezuela 11000 private Unternehmen, heute sind es 6000. 1999 förderte die staatliche Erdölfirma Petró leos de Venezuela, S.A. (PDVSA) täglich 3,1 Millionen Barrel, heute sind es 2,3 Millionen. Es war der Präsident, der 18000 Angestellte von PDVSA entließ und durch linientreue Parteifreunde ersetzte. Diese Praxis ist längst Doktrin. Entlassungen. Enteignungen. Misswirtschaft. Die landwirtschaftlichen Betriebe produzieren nur ein Fünftel der benötigten Lebensmittel. Die Leistung der Kraftwerke liegt bei der Hälfte ihrer Kapazität. Strom wird bereits rationalisiert. Die Inflation beträgt 25 Prozent.
Ein Präsident mit Sinn fürs Nebensächliche
Wo, fragen Chávez' Kritiker, sind die Milliarden aus den Erdöleinnahmen geblieben? Adolfo Cabañas (Name geändert), Professor für Wirtschaft an einer Privatuniversität, gibt zu bedenken, dass die Regierung in Schulen, Unterkünfte, Krankenversorgung in den Barrios investiert, dass Benzin und Grundnahrungsmittel subventioniert werden. Doch er sagt auch: "Fundamentale ökonomische Dinge werden weder mit Expertise noch Erfahrung behandelt, während der Präsident damit beschäftigt ist, ob Simón Bolívars Pferd sich auf unserem Wappen nach rechts oder links dreht."
Symbolismus statt Inhalte. Caracas hat Dutzende Barrios, doch die Seilbahn steht an einem nicht zu übersehenden Platz, den jeder passiert, der vom Flughafen in die Stadt kommt. Natürlich musste sich Odebrecht an Bauvorschriften der Metro halten, aber Pflaster aus Granit, Fliesen aus Marmor, Geländer aus Nirosta? War das nötig?
Umgesiedelte Familien erhielten als Entschädigung angeblich das Fünffache des Werts ihrer Hütte. Dazu eine Wohnung in den Neubauten hinter den Barrios. Insgesamt hat das Projekt 270 Millionen Dollar gekostet, das sind rund 157000 pro Meter Seilbahn. Doppelmayrs Rechnung belief sich auf 18 Millionen. Nun soll Chefingenieur Núñez in den nächsten Wochen mit der zweiten Seilbahn beginnen, sie wird im Barrio Filas de Mariche entstehen, insgesamt zehn Kilometer lang sein und 5000 Personen pro Stunde transportieren. Mit Granit und Marmor unbezahlbar. Núñez: "Dieses Niveau können wir uns nicht noch einmal leisten."
Am späten Nachmittag ziehen blassgraue Wolken ins Tal. Die Hochhäuser von Parque Central liegen im Dunst. Marlin erzählt von ihren Kindern, die sich statt TV-Comics lieber das Barrio von oben ansehen. Marlin sagt, ihre Kinder könnten den ganzen Tag in der Seilbahn verbringen. Auch wir fahren hin und her und hin und her. La Ceiba. El Manguito. San Agustín. Zurück zu La Ceiba. Weiter zu Parque Central. Wieder zu Hornos de Cal.
Als die Gondel erneut in La Ceiba einfährt, kommt die junge Frau, die beim Ein- und Aussteigen assistiert. Ob man unbedingt weiterfahren wolle? An der Station San Agustín habe es eine Schieße rei gegeben. Die schlechte Nachricht: Die Polizei lasse dort jeden aus- und niemanden mehr einsteigen. Die gute Nachricht: Auf der anderen Seite der Plattform kommt die nächste Gondel nach Parque Central. Die Fahrt dauert fünf Minuten. Ein letzter Blick auf das Barrio, dann in die Metro und nach Hause.-