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Eisblumen am Fenster

Oft war ich bei Verwandten im Nachbarort. Meist vor den Feiertagen, wenn im Geschäft viel los war. Das waren so eine Art Ferien oder auch nicht. Im Haus wohnte eine Tante. Sie hatte lange grauschwarze Haare, die zu einem Knoten im Nacken gebunden waren. Sie saß den ganzen Tag in einem Lehnstuhl. Außer Haus ging sie kaum. Sie hat wohl die Kinder meiner Tante großgezogen und wurde im Alter versorgt und gepflegt. Alten- und Seniorenheime, wie wir sie heute kennen, gab es zu der Zeit nicht. Wir waren oft bei ihr, meist nachmittags. Sie hatte ein großes, helles Zimmer. In diesem wohnte und schlief sie.

Ich schlief bei meiner Cousine im Bett im hinteren Zimmer. Das Bett war groß, fast zu groß für uns und wir verkrochen uns unter der großen Bettdecke, die warm gab. Im Winter war das Zimmer nicht geheizt. Oft zierten morgens Eisblumen das Fenster. Es war kalt geworden in der Nacht. Im Laufe des Vormittags verschwanden sie wieder.

Meine Cousine war so alt wie ich, aber wir hatten nicht viel gemeinsam. Ich aß immer viel und war nach dem Mittagessen müde. Ich legte mich hin und meine Tante freute sich. Sie hatten unten im Haus die Küche, dahinter das Badezimmer und nach vorne die Wohnstube. In der anderen Haushälfte war der Stall untergebracht. Sie hatten nicht viel Vieh. Ein paar Schweine und Hühner. Mein Onkel arbeitete in einer Schuhfabrik in der Kreisstadt. Er ging morgens und kam abends zurück. Einmal im Jahr wurde ein Schwein geschlachtet und es gab Metzel Suppe. Sie brachten uns oft ein paar Dosen Leber- oder Schwarzwurst und diese schmeckten ganz gut. Oft half ich im Herbst auf dem Feld mit beim Rüben holen.

Mein Onkel hatte einen Traktor und einen Anhänger und wenn er Feierabend hatte, fuhren wir los und holten Rüben, später lasen wir Kartoffeln auf. Rüben holte ich gerne. Sie kamen auf den Wagen und in der Scheune wurde das Grünzeug abgeschnitten. Im Stall gab es nicht viel zu tun. Wir fütterten die Schweine und Hühner und hielten uns in den Winkeln und Gassen im Ort auf, bis zum Gebetleuten. Dann mussten wir im Haus sein. Im Sommer war dies so gegen acht Uhr und im Winter viel früher, meist wenn die Dunkelheit anbrach. Manchmal besuchten wir weitere Verwandte, aber sie gefielen uns nicht so gut. Am besten kamen wir mit dem Freund meiner Cousine klar.

Die Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft und wir waren oft dort, etwa zum Einkaufen, wenn es nötig war. Das meiste hatte meine Tante selbst. Später ging der Freund nach Stuttgart und machte eine Pilotenausbildung. Von da an habe ich nicht mehr viel von ihm gehört. Mir gefiel er nicht besonders gut. Er war groß und schlank und eigentlich recht hübsch und gutaussehend.

Meine Kusine hatte einen Bruder. Er war älter und mit ihm hatten wir nicht viel zu tun. Meist war er mit den Jungs aus dem Ort zusammen. Was sie taten, erfuhren wir selten. Er lebte fast in einer anderen Welt, die uns fremd und nicht zugänglich war. Nach dem Schulabschluss machte er eine Ausbildung. Er kam erst abends von der Arbeit und ging dann zu seinen Freunden. Später hat er in eine Bäckerei eingeheiratet. Leider ist er im mittleren Lebensabschnitt völlig unerwartet verstorben.

Wenn ich zwei Wochen im Nachbarort war, musste ich mich wieder an den örtlichen Slang gewöhnen. Die Leute aus dem Nachbarort waren bei uns nicht beliebt. Und ihr Dialekt erst recht nicht.  Meist wurde ich sofort darauf angesprochen. Nach ein paar Tagen hatte ich wieder den örtlichen Dialekt drauf. Einen Ort weiter wurde nochmals ein anderer Dialekt gesprochen. Den lernte ich nie. Er gefiel mir nicht. Ich war oft in diesem Ort, zuerst beim Klavierunterricht und später in der Kochschule. Aber angefreundet habe ich mich damit nicht, wie die meisten bei uns im Ort. Die größere Gemeinde hat bei der Eingemeindung unseren Stadttitel erhalten. Das haben die Einheimischen lange nicht verdaut. Während meiner Zeit in der Volksschule (heute Grund- und Hauptschule) konnten wir noch das Jubiläum 650 Jahre Stadt feiern. In den Handarbeitsstunden fertigten wir unter Anleitung der Lehrkraft eine Fahne mit dem Wappen der Stadt an.   

Wenn ich bei meiner Tante war, besuchten wir die andere Tante. Meine Mutter hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Er wohnte in der Kreisstadt mit seiner Familie. Zum ihm hatten wir erst sehr viel später Kontakt. Er war ein Stiefbruder. Als seine Mutter starb heiratete mein Opa ein zweites Mal. Mit dieser Frau hatte er drei Töchter. Die zweite Tante war die Jüngste von den dreien. Sie hatte ein Haus und viele Kinder. Bei ihr war ich nie in den Ferien. Die Oma wohnte bei ihr, die wir oft besuchten. Manchmal mit den Eltern, manchmal gingen wir allein dorthin, um sie zu unterhalten. Fernseher wie heute waren recht selten anzutreffen. Nicht viele konnten sich einen leisten. Die Oma wohnte Parterre. Der Ehemann von der Tante arbeitete in einer Schreinerei. Er war groß, blond und sprach nicht viel. Er ist jung gestorben. Die Kinder waren knapp aus der Schule und die Tante hatte es nicht einfach, bis die Kinder aus dem gröbsten waren. In dieser Zeit besuchten wir sie oft.

In: Geschichten aus meiner Kindheit, Fouqué-Verlag, Frankfurt/Main, 1998. (überarbeitet 8/9  2023).