Georgien ist ein zerrissenes Land; in Tiflis prallen Welten aufeinander: Während der Wirtschaftsminister Arweladse auf den Erfolg der jüngsten Reformen verweist, fürchten Oppositionelle ein autoritäres Regime und die gewaltsame Beschneidung von Freiheiten. Zwei Gespräche in Tiflis.
TIFLIS. Drei Dinge wirft Iwlian Chaindrawa auf den Tisch, wenn man ihn nach Georgiens Schicksal fragt. Grob verschweißte Nägel, die Reifen platzen lassen, eine Tränengaskartusche, eine Hartgummikugel: „Das ist die Antwort einer isolierten Machtclique auf die Forderungen des Volkes.“
Giorgi Arweladse braucht nur einen Gegenstand: den neuen Bericht der Weltbank, der Georgien den Titel des „weltbesten Reformers“ verleiht. Chaindrawa und Arweladse kämpfen mit aller Leidenschaft für ihr Land – aber gegeneinander.
Chaindrawa sitzt in einem Acht-Quadratmeter-Büro im Hauptquartier der Republikanischen Partei in Tiflis. Tisch, Stuhl, eine Jesus-Ikone und ein PC – sonst lenkt nichts von den Worten des Abgeordneten ab. „Der einzelne Mensch bedeutet nichts für dieses autoritäre Regime“, urteilt der ergraute Kettenraucher. Daher kämpfe er für eine parlamentarische Demokratie, vor allem aber gegen Präsident Michail Saakaschwili.
Sein Gegner, Wirtschaftsminister Arweladse, umgibt sich mit Flipcharts, Flachbildschirmen und asiatischen Antiquitäten. Der 39-Jährige porträtiert Georgien als „offenste, liberalste und demokratischste Insel“ der Region: „Wir haben diesen Staat von null an aufgebaut. Uns war klar, dass wir für die radikalen Reformen einen Teil von Saakaschwilis Popularität opfern mussten.“ Wie bestellt, klingelt sein iPhone – „ein Geschenk des Scheichs von Abu Dhabi“ –, um ihn zum Präsidenten zu rufen.
Willkommen in einem gespaltenen Land, vier Jahre nach der friedlichen Rosenrevolution – und eine Woche nach den Massenprotesten auf dem Rustaweli-Boulevard, die die Rosenrevolutionäre mit Gewalt auflösten. Im kleinen, aber geostrategisch so wichtigen Kaukasusland geht es mal wieder um historische Entscheidungen: zwischen Stabilität und Demokratie, Reform und sozialer Absicherung. Und vielleicht auch zwischen Russland und dem Westen.
Todmüde schildert Iwlian Chaindrawa die Ereignisse vom 7. November, als Polizisten ein paar Hungerstreikende verprügelten und schließlich maskierte Sondereinsatzkräfte mit Tränengas und Gummikugeln auf die Demonstranten schossen. „So etwas hat es seit der Sowjetzeit nicht mehr gegeben“, sagt er ungläubig. An diesem Tag habe die Welt Saakaschwilis wahres Gesicht gesehen. Minister Arweladses Version ist eine andere. Demnach war es ein versuchter Staatsstreich, geplant in Moskau und angezettelt von einem obskuren Oligarchen, der durch die Einführung von Recht und Ordnung seine Geschäftsgrundlage verloren habe. Die junge Demokratie habe reagieren müssen wie bei den Wirtschaftsreformen: rasch, rücksichtslos. „Wir haben bewiesen, dass die Zeit der Umstürze vorbei ist, dass Veränderungen allein über Wahlen erreicht werden“, sagt Arweladse begeistert.
Also, wie so oft im Osten Europas, ein Kampf zwischen liberalen Reformern und Beharrungskräften? Oder doch eher zwischen einer autoritären Machtclique und wahren Demokraten? Die Antwort ist für den Westen fast so wichtig wie für die knapp fünf Millionen Georgier. Das Land an Europas Südostende war einer der letzten Hoffnungsträger für Freiheit und Marktwirtschaft in der Ex-Sowjetunion. Und es bleibt als Eingangstor zur Energieregion rund um das Kaspische Meer ein wichtiger Baustein beim Versuch von USA und EU, an Russland vorbei Zugang zum Gas und Öl Zentralasiens zu bekommen.
Die Regierung umwirbt den Westen. Georgien sei dabei, sich aus Russlands Umarmung zu lösen und an die Nato anzudocken – doch „wie immer ist Moskau zu allem bereit, um unsere Westintegration zu sabotieren“, sagt Minister Arweladse. Die Belege? Abgehörte Telefonate von Oppositionellen mit russischen Agenten. Aber Verschwörungstheorien wie diese haben Georgier schon zu oft gehört.
Die Übergriffe auf die Demonstranten haben Präsident Saakaschwilis Ansehen im Ausland beschädigt. Ein westlicher Emissär nach dem anderen mahnt die Regierung, zur Demokratie zurückzukehren. Ist Saakaschwilis Entscheidung, die Präsidentschaftswahl auf den 5. Januar 2008 vorzuziehen, ein solcher Schritt? Damit sagt sein Minister, habe sich der Staatschef als lupenreiner Demokrat erwiesen: „Diese Wahl wird die demokratischste, mit den fairsten Bedingungen und den meisten internationalen Beobachtern werden.“
Oppositionelle wie Chaindrawa, aber auch Wahlbeobachter bezweifeln das. Wie soll es einen gleichberechtigten Zugang zu den Medien geben, wenn der einzige unabhängige Fernsehsender Georgiens lahmgelegt ist, fragen sie.
Wie ernst es Michail Saakaschwili mit der Neutralität des Regierungsamtes nimmt, hat er in den vergangenen Tagen demonstriert: Fast täglich spricht er vor Lehrern oder Ärzten. Immer vom Staatsfernsehen übertragen und immer mit sozialen Wohltaten im Gepäck. Auf Giorgi Arweladses Besprechungstisch türmen sich T-Shirts mit dem Bild von Julia Timoschenko. „Die hat in der Ukraine eine tolle Kampagne gehabt, davon können wir lernen“, sagt er arglos. Dass in guten Demokratien Ministerbüros keinen Wahlkampf steuern sollten, scheint ihn nicht zu stören. Seit er 23 ist, trommelt Arweladse für Michail Saakaschwili. Die Opposition sieht die Menschen auf ihrer Seite. „Glauben Sie, dass diese Regierung noch 50 Prozent der Stimmen bekommt nach all dem, was hier geschehen ist?“ fragte Iwlian Chaindrawa. Umfragen des renommierten International Republican Institute in Washington geben ihm recht: Waren vor drei Jahren zwei Drittel der Georgier der Meinung, das Land bewege sich in die richtige Richtung, behaupten heute ebenso viele das Gegenteil.
Der Minister hält dagegen: Saakaschwili könne sich auf alle „vernünftigen Kräfte“ der Gesellschaft stützen. Unermüdlich zählt Arweladse die Erfolge auf, die Georgien seit dem Abtritt von Präsident Eduard Schewardnadse 2004 verändert haben: „Nichts gab es, keinen Strom, keine Straßen, keine Staatseinnahmen, aber Korruption an jeder Ecke.“ Tatsächlich fließt nun rund um die Uhr Strom, die Wirtschaft wächst rapide – 12,5 Prozent allein im ersten Halbjahr –, und die arabischen Ölstaaten pumpen Kapital ins Land.
Doch der neue Wohlstand in Tiflis ist allenfalls eine dünne Lackschicht, die sich über anhaltenden Verfall legt. Wie es in der Wirtschaft zugeht, schildert ein Medienunternehmer, der seinen Namen lieber für sich behält. Solange seine Zeitungen „hart-kritisch“ berichteten, hätten ihn Werbekunden boykottiert. Nun berichte er „konstruktiv-kritisch“ – und seine Firma prosperiere. „Wir haben einen Ein-Parteien-Staat, gegen Saakaschwilis Mannschaft geht nichts“, sagt er. Iwlian Chaindrawa hofft dennoch auf die Wahl am 5. Januar.
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