29. Oktober 2016 00:01 Uhr
KonzertreiseMusik verbindet Menschen unterschiedlicher Kulturen und Hautfarbe: Die Camerata Academica Freiburg ist auf ihrer Konzertreise zusammen mit Sängern aus Südafrika aufgetreten.
Die Instrumentenkoffer sind schon geöffnet, die Noten liegen griffbereit in der Tasche. Doch dann zucken die Blechbläser der Camerata Academica Freiburg plötzlich zusammen. "Wenn im Township geschossen wird, dann steht man nicht mehr auf", sagt Pfarrer Stefan Hippler. "Aber das ist kein Problem, ihr habt ja schusssichere Instrumente."
Der flapsige Spruch des katholischen Priesters, der mit seiner schwarzen Lederkleidung, der bunten Sonnenbrille und den Armbändern nicht gerade wie ein Geistlicher aussieht, sollte für ein bisschen Erleichterung sorgen. Doch keiner lacht. Die Freiburger Musiker wollten eigentlich im Township Blikkiesdorp bei Kapstadt ein kleines Konzert geben und den Bewohnern eine Freude machen. Jetzt schauen sie besorgt. Nach einer kurzen Besprechung teilen sie mit, dass sie dort nicht spielen möchten. "Wir haben ein mulmiges Gefühl", sagt Posaunist Christoph Erb.
Ratlos stehen die Musiker auf dem schmalen Streifen, wo die deutsche Stiftung "Hope Cape Town" neben dem mit Stacheldraht befestigten Township eine Dependance eingerichtet hat. Mitarbeiter Odi zeigt stolz den Gemüsegarten. Ein großer Kessel mit Suppe dampft auf dem Herd in einem der drei Container. Die Fenster sind vergittert. Im Dezember 2015 hatte das Freiburger Sinfonieorchester gemeinsam mit dem Freiburger Kammerchor Bachs "Weihnachtsoratorium" im Konzerthaus aufgeführt und 6000 Euro der Einnahmen für die Stiftung gespendet, die sich um HIV-infizierte Kinder kümmert. "Hope Cape Town" besorgt nicht nur die notwendigen antiretroviralen Medikamente, sondern kümmert sich um die komplette medizinische Versorgung der Kinder und deren Angehöriger, betreibt Aufklärung und bezahlt eigene Ärzte und Krankenschwestern.
Rund sieben Millionen Südafrikaner sind HIV-positiv. 240 000 Kinder unter 14 Jahren leben mit dem tödlichen Virus, viele davon sind Waisen. "Es gibt zwei Generationen ohne Hoffnung - die Alten und die Jungen", sagt Stefan Hippler. Der Stiftungsgründer lässt sich davon aber nicht entmutigen. Um das Konzept erfolgreich umzusetzen, beschreitet der Geistliche ungewöhnliche Wege. Er hat sich beschneiden lassen, um von den Sangomas, den traditionellen Heilern der Schwarzen, akzeptiert zu werden. In Blikkiesdorp arbeitet der katholische Priester, der wegen seines selbstverständlichen Umgangs mit Kondomen in der Aids-Prävention von der Amtskirche kritisiert wird, mit Gangstern als Wachpersonal zusammen, um in Ruhe gelassen zu werden. Trotzdem kann man heute das Township nicht betreten: "Zu gefährlich!"
Der Besuch im Township ist der Auftakt zur zweiwöchigen Konzertreise
Schließlich wird doch noch musiziert. Im geschützten Bereich der Stiftung spielen die sechs Musiker vor dem rostroten Container der Hope-Stiftung "Pops for Four" von Chris Hazell und andere kürzere Stücke. Fast alle der Zuhörer sind Orchestermitglieder. Nur ein kleines Mädchen, das auch schon beim Vortrag Stefan Hipplers auf dem Schoß seiner jungen Mutter turnte, schaut sich die weißen deutschen Gäste mir ihren glänzenden Instrumenten aus der Nähe an. Zwei Jungen kommen vom Township an den Zaun gerannt und stecken neugierig ihre Nasen durch die Gitterstäbe.
Der Besuch im Township ist nur der Auftakt zur zweiwöchigen Konzertreise, die unter anderem von der Stadt Freiburg und vom Goetheinstitut unterstützt wurde. Felix Mendelssohns Chorsinfonie "Lobgesang" hatte das mit einigen Profis besetzte Laienorchester bereits in Freiburg einstudiert, um sie gemeinsam mit zwei Chören vom Musical Department der Universität Stellenbosch aufzuführen. "Solche großen Orchesterprojekte wären sonst für unsere Studenten hier nicht möglich. Durch diese einmalige Zusammenarbeit sammeln sie wichtige Erfahrungen", sagt Martin Berger, seit 2013 Professor für Chorleitung in Stellenbosch. Applaus brandet auf, als der Dirigent die Gäste aus Deutschland in der ersten Probe begrüßt. Dann geht es um Musik. Bläserakkorde werden ausgestimmt, Konsonanten gedehnt. "Let Mendelssohn do the job", ruft Berger seinem Chor zu.
Als am Ende des einstündigen Werks von den Südafrikanern der Choral "Nun danket alle Gott" a cappella in reinster Intonation und guter Textverständlichkeit angestimmt wird, sieht man viele bewegte Gesichter im Orchester. Für Jens Eggers ist der deutsche Text der Sinfonie kein Problem. Der 45-jährige Südafrikaner, der als Bass in der Schola Cantorum singt, ist Nachfahre deutscher Missionare aus Hermannsburg in der Nähe von Celle. Sein Ururgroßvater sei 1856 gemeinsam mit Handwerkern und Bauern in die Gegend westlich von Pretoria gekommen, um eine evangelisch-lutherische Missionsstation aufzubauen, erzählt er in akzentfreiem Deutsch, seiner Muttersprache. Deutsche Kultur wird in seiner Familie nach wie vor groß gehalten. Die religiösen Texte von Mendelssohn singt er mit gemischten Gefühlen. "Zum einen treibt mir der Choral die Tränen in die Augen, zum anderen kann ich viele der Glaubenssätze für mich nicht mehr übernehmen." Auch seine Familiengeschichte betrachtet er inzwischen kritisch. "In meiner Kindheit wurde die Apartheid in meiner Familie weitgehend unterstützt", erzählt der Softwareentwickler auf Nachfrage.
Ehemalige weiße Eliteuniversität sucht schwarze Talente
Lunathi Ncamani (29) singt in der gleichen Stimmgruppe. Er hat im Gegensatz zu seinem weißen Kollegen die politisch verordnete Rassentrennung auf der Seite der Schwarzen erlebt. Aufgewachsen ist der Student im Mdantsane-Township am Eastern Cape. Er habe dort Gewalt gesehen, aber auch viel Liebe erfahren, erzählt er nach der Probe mit sanfter, warmer Stimme. "Musik spielt bei uns eine ganz große Rolle. Jeder Stil ist im Township zu hören. Und auch die religiösen Gesänge meiner katholischen Großeltern fand ich faszinierend. Strugglesongs waren auch immer Formen des Widerstands gegen das System."
Ncamani studiert Chordirigieren mit Schwerpunkt Musikerziehung. Nun betreut er selbst ein Musikprogramm in einem Township. Durch ein Vorstudium konnte er in Stellenbosch die fehlende klassische Musikausbildung nachholen - ausgerechnet an der früheren Eliteuniversität der Weißen, wo die Apartheidsgesetze entstanden. "Erst letztes Jahr bei den Studentenprotesten wurde der Namen Hendrik Verwoerd, der der erste Apartheids-Premierminister Südafrikas war, von einem Gebäude der Universität getilgt." Trotz der düsteren Vergangenheit blickt der Musikstudent nach vorne. Er ist nicht verbittert, sondern schätzt die Chancen, die ihm das Studium nun bieten. Ab November setzt er seine Ausbildung in München fort. In den beiden Chören Martin Bergers, in denen Schwarze und Farbige immer noch die deutliche Minderheit sind, gebe es kein Problem mit Rassismus. "Die Musik verbindet. Wir haben viel Spaß miteinander. Und Mendelssohn ist sowieso mein Lieblingskomponist."
Große Aufregung am Abend. Das erste Konzert in der renommierten, akustisch hervorragenden Endler Hall steht an. Martin Berger begrüßt auf Afrikaans und Englisch das Publikum. Dann kann er sich entspannt zurücklehnen, weil Gunnar Persicke den ersten Programmteil mit drei Ouvertüren von Haydn, Beethoven und Schubert dirigiert. Nach der Pause wünscht Berger den Musikern viel Glück. Auch zwischen den Chorsängern und Orchestermusikern werden Blicke getauscht: "Have a great concert!" Mendelssohns "Lobgesang" erzählt von den "Stricken des Todes" und der "Angst der Hölle", die von den "Waffen des Lichts" besiegt wird. Das deutsch-südafrikanische Gemeinschaftsprojekt mit der Stuttgarter Sopranistin Maria Bernius, der südafrikanischen Sopranistin Jolene McCleland und dem Freiburger Tenor Hans Jörg Mammel strahlt. Dankbarer Jubel, glückliche Gesichter. Auf dem Empfang danach gibt es Wein und Briekäse. Beides haben die Hugenotten im 17. Jahrhundert in die Gegend gebracht - inzwischen gehört Stellenbosch zu den bekanntesten Weinanbaugebieten weltweit.
Die Musik schafft ein euphorisches Gemeinschaftsgefühl
Lunathi Ncaman singt mit einigen Freunden vom Kammerchor der Universität Stellenbosch traditionelle Lieder auf Xhosa, der neben Zulu am meist verbreiteten Sprache der Schwarzen Südafrikas. Auch weiße Chorsänger sind dabei. Nur ihre Tanzbewegungen sind nicht ganz so geschmeidig wie die ihrer schwarzen Kollegen. Beim bekannten Lied "Shosholoza", das ursprünglich von Minenarbeitern gesungen wurde, stimmen alle ein in die mitreißende Musik. Auch die Freiburger wippen mit und lassen sich von der positiven Energie anstecken. Es ist so, wie es Ncamani im Gespräch gesagt hatte - keine Grenzen gefährden die Harmonie. Die Musik schafft ein euphorisches Gemeinschaftsgefühl. Kraftvoll und strahlend ertönt der Gesang, der sich immer wiederholt.
Martin Berger, der Saarländer, wechselte 2013 von der Universität Düsseldorf nach Stellenbosch. Damals gab es noch kaum schwarze Studenten im Musical Department der Universität. Berger suchte gezielt in Townships nach musikalischen Talenten, hörte sich Sängerinnen und Sänger an und schaut nach Chordirigenten. Mit dem "Certificate Program" verweist er dort auf ein Vorstudium seiner Universität, das den Talenten den Weg zur klassischen Musik ermöglichen kann. Regulären Musikunterricht gibt es im Township nicht. "Wir müssten die Dinge jetzt richtig machen. Die meisten unserer Studenten gehören zur sogenannten Born-Free-Generation. Sie haben keine Apartheid mehr erlebt. Die Musik ist ein wunderbares Übungsfeld, zumal gerade in der schwarzen und farbigen Bevölkerung enorme musikalische Begabungen zu finden sind." Auch solch ein Partnerschaftsprojekt tue den Studenten sehr gut, weil sie spürten, was auf der Welt noch so passiere. "Das Land war ja jahrzehntelang isoliert. Da gibt es eine Menge Nachholbedarf."
Der "Abendsegen" aus "Hänsel und Gretel" gelingt berührender als in vielen deutschen Stadttheatern
Nach einem weiteren Konzert in der Groote Kerk in Kapstadt führt die Reise nach Port Elizabeth. Der 60-köpfige, privat getragene Eastern Cape Children's Choir von Dirigent Lionel van Zyl ist ein Aushängeschild der Region. Bereits zwölfmal war er auf Europatournee, einmal auch schon im Freiburger Münster. "Wir arbeiten mit Schulen zusammen, auch in Townships. Inzwischen sind 70 Prozent der Kinder farbig oder schwarz. Der Kontakt untereinander ist viel freier als noch vor Jahren. Man kann das aber nicht forcieren, das braucht Zeit", sagt Geschäftsführerin Henriette Visser.
Beim Empfang in der Feather Market Hall in Port Elizabeth erhalten die Freiburger von jedem Kind eine CD des Chores mit Weihnachtsliedern. Die Mitbringsel aus Deutschland auf den Tischen, von Schokolade bis Schlüsselanhänger, finden reißenden Absatz. Gesungen wird Europäisches an der Kitschgrenze - der "Nonnenchor" aus Johann Strauss "Operette "Casanova" und "Brüderlein und Schwesterlein" aus der "Fledermaus". Die kristallinen Stimmen der Kinder machen daraus zu Herzen gehende Musik. Der "Abendsegen" aus "Hänsel und Gretel" gelingt berührender als in vielen deutschen Stadttheatern.
"Hier in Südafrika habe ich gelernt, wie Musik tatsächlich unterschiedlichste Menschen verschiedener Traditionen zusammenbringt und vereint." Dirigent Gunnar Persicke
Nach dem Konzert springen die Kinder in die Garderobe und probieren Instrumente aus. Die Trompete ist besonders begehrt. Noch im Flur werden die Freiburger von schwarzen Kindern umarmt: "Give me a hug, please!" Dieses Lachen werden sie nicht vergessen. Am letzten Abend gibt es Geschenke für die Organisatorin Katharina Puff und den Dirigenten Gunnar Persicke, der eine Abschiedsrede hält: "Sätze wie Musik überwinde Grenzen oder Musik schlage Brücken habe ich nie richtig verstanden, aber gerne benutzt. In Europa sind die Musiker technisch hervorragend ausgebildet, vergessen aber oft, darüber hinaus zu gehen. Hier in Südafrika habe ich gelernt, wie Musik tatsächlich unterschiedlichste Menschen verschiedener Traditionen zusammenbringt und vereint."
Autor: Georg Rudiger