Die Aufregung war groß: "Brüsseler Bürokraten wollen die Ausgabe von Käse und Joghurt an britische Schulkinder verhindern", schrieb die britische Boulevardzeitung "Mail" Anfang Februar und machte ordentlich Stimmung gegen die EU- Kommission in Brüssel. Dort wurde die falsche Darstellung der jüngsten Gesundheitskampagne für die europäischen Schulen zwar gleich dementiert. Aber die heftigen Kommentare vieler Briten zeigten, wie hitzig die Gemüter in Sachen EU auf der Insel sind. "Mein Großvater ging in den Krieg, um für meine Freiheit zu kämpfen", schrieb ein "Mail"-Leser empört. "Ich werde in die Lunchbox meiner Kinder reintun, was ich will. Wach endlich auf David Cameron und hol' uns aus dieser EU heraus." Solche Aufregerthemen gehören in der britischen Boulevardpresse zum Alltag, zuletzt wurde über die Freizügigkeitsregelung für Rumänen und Bulgarien - also die Freiheit, in einem anderen EU-Land zu leben und zu arbeiten - heftig gestritten.
Längst diskutieren die Briten auch grundsätzlich darüber, ob ihr Land zukünftig Mitglied der Europäischen Union bleiben soll. "Brexit" für "British Exit" fasst das in einem Wort zusammen. Und mit der anti-europäischen UK Independence Party (UKIP) gibt es eine politische Kraft, die sich diese Forderung auf die Fahnen schreibt.
EU ohne "Fish n' Chips"?Der britische Premierminister David Cameron hat seinen Landsleuten bis 2017 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU versprochen. Er will damit vor allem die EU-Gegner in den Reihen seiner Partei, der konservativen Tory-Partei, ruhigstellen. "Es ist unklar, ob es Cameron gelingt, seine eigene Partei zu überzeugen", sagt Nicolai von Ondarza, Großbritannien-Experte der Denkfabrik "Stiftung Wissenschaft und Politik" in Berlin. Er erwartet rund um die Europawahl am 25. Mai eine noch schärfere Debatte in Großbritannien. Umfragen zeigten, dass Camerons Tory-Partei sogar abgeschlagen auf dem dritten Platz nach der Labour-Partei und der UKIP landen könnte.
Aber nicht nur die Europawahl, sondern auch das für den 18. September 2014 geplante Unabhängigkeits-Referendum der Schotten dürfte sich auf die EU-Politik auswirken. "Denn bei Referenden kann man Überraschungen nie ausschließen", sagt Ondarza. Sollte die Region aus dem Vereinten Königreich ausscheiden, ist bislang auch noch unklar, in welcher Form ein eigenständiges Schottland weiter EU-Mitglied sein würde oder ob ein neuer Antrag auf Mitgliedschaft nötig ist. Sollte sich Schottland abspalten, könnte auch die Gruppe EU-freundlicher Briten weiter schrumpfen, denn gerade die Schotten gelten als verlässliche Unterstützer von Brüssel.
Kosten drohen, wie bei jeder ScheidungDer EU stehen deshalb in nächster Zeit noch schwierige Debatten über diese Fragen ins Haus. Für den Verbund wäre ein Austritt Großbritanniens ein herber Rückschlag. Großbritannien ist nach Deutschland und Frankreich die drittgrößte Wirtschaftsmacht und der viertgrößte Nettozahler in der EU. Ein Austritt würde die internationale Handlungsfähigkeit und das Ansehen der EU nachhaltig schwächen, analysiert Ondarza die möglichen Folgen. Der Experte betont auch, dass die Loslösung mit erheblichen Kosten verbunden wäre, da die Trennung von mehrjährigen Verhandlungen begleitet werden müsste - wie bei einer Scheidung nach 40 Jahren Ehe eben auch.
Bundeskanzlerin Angela Merkel ( CDU) appellierte deshalb bei ihrem London-Besuch Ende Februar mit einer Rede vor beiden Häusern des britischen Parlaments an die Briten, in der EU zu bleiben. "Wir brauchen ein starkes Großbritannien mit starker Stimme innerhalb der EU", sagte die Kanzlerin, machte aber deutlich, dass Einschränkungen der Grundfreiheiten in der EU, wie beispielsweise die Freizügigkeit für Arbeitnehmer, nicht in Frage kämen.
"Der britische Ansatz zur EU ist ein pragmatischerer Ansatz als der deutsche." So erklärt Gerhard Dannemann vom Großbritannien-Zentrum der Berliner Humboldt-Universität, warum die Briten traditionell eher die Distanz zu Europa pflegen. Großbritannien spielte schon immer eine Sonderrolle. Der Inselstaat stieß erst 1973 mit Dänemark und Irland zur damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG). Auch zu den Euro-Ländern gehören die Briten nicht. Sie sind am wichtigen Finanzplatz London lieber bei ihrer eigenen Währung geblieben, dem Pfund.
Freunde mit gewissen VorzügenDannemann betont, dass die Briten vor allem die wirtschaftlichen Vorteile des gemeinsamen Binnenmarktes interessierten, nicht aber eine größere politische Integration innerhalb der Union. Der Wissenschaftler macht auch deutlich, was ein wichtiger Anreiz für einen künftigen Verbleib sein könnte: "Die Verhandlungen der EU mit den USA über das Freihandelsabkommen ist sehr attraktiv", so Dannemann. Ein erfolgreicher Abschluss der TTIP-Verhandlungen sei im britischen Interesse und mache einen Ausstieg unwahrscheinlicher.
Die deutsche Bundesregierung und die EU sollten schon jetzt ein Konzept entwickeln, wie Großbritannien in Zukunft in die Union eingebunden werden kann, fordert der Großbritannien-Experte Ondarza. Er wertete es als positiv, dass die Finanzminister beider Länder, Wolfgang Schäuble und sein britischer Amtskollege George Osborne, sich Ende März in einem gemeinsamen Beitrag für die "Financial Times" dafür stark machten, "an EU-Reformen mit Optimismus" heranzugehen. "Wenn wir nach vorne schauen, können wir eine flexible und nach außen orientierte EU schaffen", schrieben sie im gemeinsamen Gastbeitrag. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob solchem Optimismus passende Schritte folgen oder der "Brexit" doch näher rückt.
Gemma Pörzgen ist freie Journalistin in Berlin und schreibt über Außenpolitik, Osteuropa, Medien und Bildung. Fotos: © picture alliance, pixelio.de/Thommy Weiss, Collage: artain; © picture alliance / dpa